Der folgende Artikel ist im aktuellen „Erlebnis Fußball“ (72) erschienen. Die neuen Normen zur „Tessera del Tifoso“ sind relativ frisch und ihre Anwendung regional noch sehr verschieden. Insbesondere, weil die Anerkennung des „Verhaldenscodex“ und die hiermit verbundene Freigabe der Auswärtsfahrten die Teilnahme und Unterstützung des Vereins voraussetzen. Gegen Ende der Saison wird das Bild sicher etwas klarer.
In der Saison 2009/10 führte der italienische Fußballbetrieb die ungeliebte Fankarte „Tessera del Tifoso“ ein, um die guten Fans von den bösen zu trennen, „Gewalttäter“ aus dem Stadion zu entfernen und diese wieder mit glücklichen Familien zu befüllen. An einem Freitag im Sommer 2017 trafen sich die Minister für Inneres und Sport, der Polizeichef und der Boss der „Nationalen Beobachtungsstelle für Sportveranstaltungen“ und beschlossen das Ende der ungeliebten Plastikkarte. Erstaunlicherweise mit derselben Begründung: Um die Familien wieder ins Stadion zu locken.
Beschlossen wurde, die „Tessera del Tifoso“ innerhalb der nächsten drei Jahre abzuschaffen. Ebenso soll es möglich sein, Karten grundsätzlich vor dem Spiel zu erwerben, auch für den Auswärtsblock. Da die Fankarte insbesondere bei den organisierten Fans und Ultras auf breite Ablehnung und Widerstand traf, ist der Jubel im Land groß, viele sprechen von einem Sieg der Ultras gegen das System. Der unter dem Motto „No alla Tessera“ vorgetragene Protest war insbesondere in den Jahren nach der Einführung deutlich. Vor dem Feiern lohnt es sich aber, genauer hinzuschauen.
Fakt ist, dass die Tessera von Beginn an seine Ziele verfehlt hat. Aus dem Versprechen, mittels dieses Instruments „Gewalttäter“ vom Stadionbesuch abzuhalten und so verängstigte Familien heranzuführen ist nichts geworden. Mit Ausnahme der Saison 2013/14 gab es über die Jahre einen kontinuierlichen Zuschauerschwund im italienischen Fußball. Seit der Einführung der Tessera hat der italienische Fußball mehr als eine Million Stadionbesucher pro Saison verloren. Auch Gewaltepisoden gingen zurück, allerdings statistisch nicht größer als die sinkenden Stadionbesuche insgesamt erwarten lassen würden. Aufgrund der prekären finanziellen Situation des italienischen Profifußballs hat man nun die ökonomische Dimension der Ticketverkäufe erkannt und versucht, gegenzusteuern.
Die tatsächlichen Änderungen betreffen auch in der Tat vornehmlich den Gelegenheitsbesucher und nicht etwa Ultras und organisierte Fans. Die Abschaffung der Tessera bedeutet, dass man sich kurz vor dem Spiel noch entscheiden kann, ins Stadion zu gehen. Ebenso kann man eine Dauerkarte erwerben, ohne eine Tessera zu besitzen. Dauerkarten können dann auch an Freunde abgegeben werden, ohne dass diese selbst eine Tessera besitzen. Eine der Absurditäten der bisherigen Regelung war ja, dass die Fankarten zwar von den Vereinen ausgegeben wurden, aber alle dieselbe Rechtsgrundlage hatten. So konnte der Autor dieses Berichts völlig problemlos ein Milan – Juventus mit der Tessera von Milan im Auswärtsblock besuchen. Technisch und rechtlich völlig problemlos, aber sicher nicht im Sinne der öffentlichen Ordnung und Sicherheit.
Die interessanteren Stimmen aus der Welt der Ultras hatten allerdings seit Jahr und Tag darauf hingewiesen, dass die Tessera sich zwar bestens für Slogans eignet, aber nicht das eigentliche Problem darstellt. Im „Articolo 9“ werden die Bestimmungen zusammengefasst, die einem Fan den Besuch eines Fußballstadions erlauben bzw. verweigern. An diesem hat sich, Plastikkarte hin oder her – nichts geändert. Alle Eintrittskarten, ob Heim, Auswärts oder Dauer, sind weiterhin namensgebunden, d.h. für die Ausgabe ist eine Registrierung mit dem Personalausweis notwendig. Dabei werden weiterhin exakt dieselben Daten erhoben, die bisher für die Tessera notwendig waren.
Und es bleiben auch die Beschränkungen bestehen: Wer in einer Blacklist der Polizei geführt wird, dem kann weiterhin der Besuch eines Stadions für ein Spiel, ein Jahr oder für immer verwehrt werden. Nach freier Maßgabe der Polizeibehörden; ein vor Jahren abgelaufenes Stadionverbot oder eine Anzeige reichen hierfür völlig aus. Bisher erhielten solche Personen normalerweise überhaupt keine Tessera, aber auch mit Tessera stand man im Zweifel vor verschlossenen Toren. An dieser Praxis wird sich nichts ändern. Ebenso behalten sich die Ordnungskräfte eine Einzelfallentscheidung für sogenannte „Risikospiele“ vor, für die – wie bisher auch – individuelle Regelungen getroffen werden. Dies kann bis hin zu Sperren einzelner Personen, ganzer Blöcke oder des gesamten Stadions reichen. In der Vergangenheit wurden fast 10% der Fußballspiele als „Risikospiele“ deklariert.
Genau hier zeigt sich die ganze Komplexität des Systems und auch des Protests dagegen: In Bezug auf die Fankarte „Tessera del Tifoso“ hatte die italienischen organisierten Fans niemals eine gemeinsame Stimme gefunden: Gruppen oder Kurven lehnten sie ab, andere riefen ihre Mitglieder dazu auf. Viele andere haben die Entscheidung ihren Mitgliedern freigestellt oder ihre Meinung im Laufe der Jahre geändert. Andere haben vereinseigene Ersatzkarten für „Home“ und „Away“ unterschrieben oder von Vereinen angebotene „Voucher“ für Pakete von Spielen. Wieder andere haben sich als Protest gegen die Tessera aufgelöst und unter anderem Namen (und mit Tessera) neu gegründet, um das Gewissen zu bereinigen.
Ebenso vielfältig sollten die Meinungen zur nun beschlossenen Ablehnung der Tessera sein. Denn ob mit oder ohne Plastikkarte kommt trotzdem nicht jeder ins Stadion und selbstverständlich betrifft dies eher Ultras und organisierte Fans als den Opa, der mit dem Enkel an der Hand ein Fußballspiel besuchen will. Wer ein – auch abgelaufenes – Stadionverbot hat bzw. irgendwie sonst in einer Blacklist gelandet ist, erfährt genau wie vorher entweder am Ticketschalter oder erst am Stadiontor, ob er hineingelassen wird. Schon die Auslegung von „Risikospiel“ ist in Italien willkürlich, in der Vergangenheit wurden auch Spiele von Mannschaften befreundeter und verbrüderter Fanlager so klassifiziert. Ebenso willkürlich ist die Interpretation der „Blacklist“.
Und Italien wäre nicht Italien, wenn man einem symbolischen Sieg nicht eine ganz konkrete Komplikation beifügen würde. In den verabschiedeten Normen ist der Passus enthalten, dass jeder Verein nun den Verkauf zumindest seiner Dauerkarten an einen Benimmcode bindet. Mit dem Zutritt zum Stadion verpflichtet sich der Besucher, einen Verhaltenskodex einzuhalten. Der Verein darf nun bei Nicht-Einhaltung selbst ein Stadionverbot für einzelne Spiele oder die ganze Saison aussprechen. Bisher stellte die Polizei Stadionverbote aus und der Rechtsweg dagegen dauerte oft genauso lange wie das Stadionverbot selbst. Nun können die Vereine das auch selbst auf dem kleinen Dienstweg erledigen.
Kurzum, ich gehöre seit Jahren zu der Fraktion, für die die Tessera del Tifoso im Rahmen der gesetzlichen Normen des Stadionbesuchs in Italien nicht das eigentliche Problem darstellt: Bei namensgebundenen Tickets erhält der Betreiber alle Informationen (und Repressionsmaßnahmen), die er auch mit der Tessera hätte. An der Wahrscheinlichkeit, in ein Stadion gelassen zu werden, ändern die neuen Normen daher nichts substantielles. Neu ist hingegen, dass die Vereine Fans nun auch selbst ausschließen können. Die Abschaffung der Tessera ist daher ein Schritt auf dem Weg, den Prozess zu entbürokratisieren und Fans wieder ans Stadion anzunähern. In der Praxis betreffen die Erleichterungen aber vornehmlich Gelegenheitsfans.
Positiv bleibt festzuhalten, dass sich nun auch die wenigen verbliebenen Fanlager, die sich der Tessera ideologisch korrekt komplett verweigert hatten, wieder auswärts bewegen können. Ein Spiel gegen Atalanta mit Gästefans ist einfach ein ganz anderes Erlebnis. Ebenso positiv ist, dass sich diese Gruppen nun auch wieder mit kostengünstigeren Dauerkarten versorgen können. Als Sieg würde ich die Abschaffung der Tessera aber nur bezeichnen, wenn sich die italienischen Ultragruppen in ihren Protesten nun gemeinsam auf die tatsächlichen und weiter bestehenden Repressionsmaßnahmen konzentrieren würden, anstatt sich in sterilen Kämpfen von „Tesserati“ gegen „Non-Tesserati“ aufzureiben. Denn es ist zu erwarten, dass den Personen, denen bisher die Tessera verweigert wurde, auch in Zukunft keine Dauer- oder Auswärtskarte zugestanden wird. Einstweilen bewegt sich etwas.
Nachtrag nach Redaktionsschluss: Die ersten fünf Spieltage der Serie A sind gespielt und die ersten Beobachtungen sind positiv. Die Zuschauerzahlen und Dauerkartenverkäufe sind erstmals nach knapp einem Jahrzehnt gestiegen. Beide Mailänder Vereine hatten mehr als 50.000 Zuschauer gegen nicht eben berauschende Gegner. Kurven fahren wieder auswärts, darunter die viel zu lange abwesenden Atalantini aus Bergamo. Mehr als 2000 Fans von Spal aus Ferrara präsentierten sich auswärts im Römer Olimpico, mehr als 1000 brachte Benevento am ersten Spieltag nach Genua. In vielen Stadien sind Trommeln und Megafone wieder im Einsatz und der Effekt ist deutlich hörbar. Im Moment haben nur die Vereine Crotone, Benevento, Spal, Udinese und Lazio die neuen Normen akzeptiert und unterschrieben, sobald mehr Vereine mitmachen, sehen wir noch mehr Auswärtsfans in den Stadien. Die Zeichen stehen auf Normalisierung, es bleibt zu hoffen, dass alle Seiten diese Normalisierung wirklich wollen.
3 Antworten auf „Addio Tessera del Tifoso“
Hallo, ich plane am ersten Märzwochenende ein Spiel des SSC Neapel oder
von Benevento als neutraler Fan zu besuchen. Ich bin in Neapel im Urlaub
und würde daher gerne dort auch mal zum Fussball gehen. Da ich jedoch
kein Inhaber einer Tessera Tifoso bin, würde ich gerne wissen, wie sich
dies nun für neutrale Fans wie mich verhält: Kann ich trotzdem (z.B.
online) ohne Fancard (z.B. SSC-Fancard) und ohne Tessera Tifoso einfach
ein Ticket kaufen (so wie dies auch in anderen Ländern möglich ist) oder
was muss ich machen, um ein Ticket legal und seriös zu erhalten? Danke
für eure Hilfe! 🙂
http://www.altravita.com/tessera-del-tifoso-haeufige-fragen.php
[…] diesem Jahrzehnt haben wir die Tessera del Tifoso kommen und auch wieder gehen sehen. Mein AC Milan wechselte aus den Händen Berlusconis in die chinesischer Investoren, meine […]