Kategorien
Fussball

Und sie bewegt sich doch…

Auch in Italien werden Ultràs von der veröffentlichten Meinung weitgehend als Störfaktor gesehen und nicht als soziale Ressource des Fußballbetriebs und, warum nicht, des Fußballgeschäfts. Aufgrund einiger Besonderheiten der Geschichte der italienischen Strömung dieser Fankultur sind die Fronten hier auch noch verhärteter als in anderen Ländern Europas. Italien hat jahrzehntelang massiv repressive Strategien als einzigen Lösungsansatz versucht, noch verschärft im Jahre 2007 durch die Einführung der ungeliebten Fankarte „Tessera del Tifoso“; durch namensgebundene Tickets, die Schaffung einer Datenbank für Fans, das Verbot von Megafonen und Trommeln, die Anmeldepflicht für Zaunfahnen und Choreografien, last but not least die Schließung von Fankurven wegen „territorialer Diskriminierung“ und was „Law & Order for Dummies“ sonst noch so hergibt. Allein, das Ergebnis war nicht das gewünschte. Waren in den 80er/90er Jahren – dem Höhepunkt der Stadiongewalt – die Fußballstadien mehrheitlich noch ausverkauft, droht heute selbst bei Spielen der höchsten Spielklasse gähnende Leere. Bei Zuschauerschnitt, Stadionauslastung und letztlich auch Einnahmen ist der italienische Spielbetrieb hinter die europäische Konkurrenz gerutscht – von bunten und kreativen Tribünen spreche ich nicht einmal, diese waren noch vor 10 Jahren das Markenzeichen des italienischen Fußballs.

Die Annahme, man „müsse nur die Ultràs vertreiben, um die Familien wieder in die Stadien zu locken“, kann getrost als gescheitert betrachtet werden: In den allermeisten Stadien bevölkern die – wenigen – verbliebenen Besucher die Kurvenbereiche, während die Tribünen leer bleiben. Eine endlose Kette an Manipulations-, Wett- und Dopingskandalen, unpopulär teure Entrittskarten, ein extrem verbürokratisierter Kartenverkauf, strenge Einlasskontrollen, die qualitative Verarmung der Liga und der erbärmliche Zustand der Stadien halten den „normalen“ Fan weitgehend vom Stadionbesuch ab. Auf der anderen Seite kann sich aber auch der italienische Fußball nicht auf den Einnahmen des Pay TVs ausruhen, seit Jahren überflügeln immer neue englische, spanische und deutsche Clubs den einstigen Krösus Europas, was die Einnahmen angeht. Besonders auffällig ist bei solchen Statistiken, dass die Erlöse aus dem Stadionbetrieb sehr niedrig sind. Einzig Juventus mit der neuen Juventus Arena kann hier positiv punkten.

Einstweilen muss man aber den Fußballbetrieb wohl oder übel mit seinen „Kunden“ planen, den Fans. Zumal mit dem organisiertesten und oft auch zahlenstärksten Anteil der Stadionbesucher: den Ultràs. Denn in immer leerer werdenden Stadien echot ihr Protest um so lauter auch in die Wohnstuben der Fernsehzuschauer. Die Protestmärsche, -sprechchöre und -banner z.B. der Milanisti und Laziali, sorgten für stundenlange Berichterstattung auf allen Kanälen, auch weil ihre Gesänge eben unüberhörbar laut waren. Sie formieren und informieren sich auf eigenen Websites, in sozialen Netzwerken und auf Portalen der Gegeninformation, anstatt sich mit den Gemeinplätzen der so genannten „Qualitätsmedien“ abspeisen zu lassen. Dass die Ultràs auch den ökonomischen Hebel des Fußballs begriffen haben, zeigt die Ankündigung der organisierten Curva Nord von Lazio, bis Saisonende dem Stadion fernzubleiben. Der Kunde boykottiert also, boykottiert und protestiert gegen alles, was im Moment den Spaß am Fußball vermiest: Lega Calcio, unliebsame Präsidenten oder Ordnungshüter. Sehr schön zusammengefasst hat die Lega Calcio die Problematik letzte Woche, als sie sich nicht entblödet, in einer scharfen offiziellen Verlautbarung diese Protestformen wortreich zu geißeln und u.a. anzukündigen, die Verantwortlichen für entstandene Schäden haftbar zu machen. Sehr interessant die Passage, dass zu den kritisierten Praktiken auch der „Boykott“ gehört, der Verzicht auf den Stadionbesuch:

„(…) und dies geschieht, zum Beispiel, durch Boykottierung des Stadionbesuchs oder Sprechchöre und Spruchbanner mit dem Ziel, Sanktionen für den Sportverein zu erwirken“
(Comunicato Lega Serie A, 28.03.2014)

Offensichtlich bröckelt aber die Front der Hardliner und eine Reihe von Personen und Institutionen sind zum Dialog bereit, nach fast 5 Jahrzehnten Ultràbewegung in Italien eine überfällige Aufweichung. So wird es am 11. April in Rom ein Treffen von Abordnungen von Fankurven mit Politikern geben. Gruppen von Sampdoria, Atalanta, Brescia, Milan, Udinese, Padova, Bologna, Napoli, Parma, Avellino, Fiorentina, Genoa, Ascoli und Venezia werden teilnehmen, verstärkt durch die Präsenz der bekannten Fananwälte Giovanni Adami und Lorenzo Contucci. Mit ihnen reden werden Politiker von „Movimento 5 Stelle“, „Fratelli d’Italia“, „PD“ und den „Radicali“. Eines der Hauptthemen, die zur Diskussion stehen, wir die Forderung nach einer verfassungsgemäßen Umformulierung des Stadionverbots sein; oder genauer, die Interpretation der Artikel 8 und 9 des Gesetzes 41 von 2007. Neben anderen Dingen ergeht aus diesen Artikeln beispielsweise die Praxis, dass sich ein Stadionverbot nach Ablauf um 5 Jahre verlängert, wenn es zu einer Verurteilung kommt. Gegen diese Verdopplung einer Strafe laufen Ultràs seit Jahren Sturm. Aber auch Politikern ist aufgegangen, dass die flächendeckende Anwendung der Stadionverbote letztlich nur dem Steuerzahler Kosten bereitet: Allein im letzten Monat (!) haben die Berufungsgerichte TAR Toskana und Ligurien 129 (!!) Stadionverbotsverfügungen aufgehoben. Diese „Daspos“ werden immer dann aufgehoben, wenn die Grundlage nur die aufgenommenen Personalien bspw. auf Auswärtsfahrten sind, oft ohne tatsächliche Delikte, in der Regel aber ohne Zurordnung von Täter zu Tat. Widerspruch gegen ein Stadionverbot ist zwar kompliziert und langwierig, in der Regel aber erfolgreich. Die Kosten für diesen Unfug fallen der Staatskasse zur Last – mehrere tausend Mal jedes Jahr.

Zweites großes Thema des Treffens ist die „Tessera del Tifoso“, die für Heimdauerkarten und Auswärtsspiele obligatorische Fankarte. Während Beppe Grillos „Movimento 5 Stelle“ von Anfang an ein offenes Ohr für die Kritik der Fußballfans hatte, bleibt die Partei des Ex-Innenministers Maroni, die das Projekt seinerzeit durchgedrückt hatte, dem Meeting am 11. April fern. Aber die Kritik an diesem Instrument ist bereits seit längerem nicht mehr nur auf Fanaktivisten beschränkt: Der Abgeordnete Mario Tullo und der Senator Marco Perduca haben die „Tessera“ in parlamentarischen Anfragen hinterfragen lassen und die Verbraucherschutzorganisation hatte bereits vor einem Jahr die Kopplung an eine Kreditkartenfunktion als nicht verfassungsgemäß feststellen lassen. Giovanni Malagò, Präsident des Nationalen Olympischen Kommittees CONI, äußerte sich wie folgt:

Ich glaube, dass die Zeit der Tessera del Tifoso abgelaufen ist. Ich glaube, dass man unmöglich akzeptieren kann, dass es wegen weniger Personen eine starke Schlechterstellung für die ganze Gemeinschaft gibt.
(Gazzetta dello Sport, 30.03.2014)

Was auch immer am 11. April besprochen wird, als einen Schritt hin zum Dialog kann man diesen Termin betrachten. Fans hoffen natürlich auf eine Rückabwicklung von Maronis absurdem Maßnahmenkatalog und letztlich sollte ein größerer Zuschauerzuspruch auch die Vereinspräsidenten und den Ausrichter freuen. Ich habe mit Giovanni Specchia zu diesem Thema Interviews mit vier Kurven aus vier europäischen Ligen geführt: Deutschland, Italien, Spanien und England. Parallel zu deren Veröffentlichung in der Gazzetta dello Sport erscheinen diese auch ungekürzt hier auf altravita.com (italienisch auf diavoltaire.com).

8 Antworten auf „Und sie bewegt sich doch…“