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Die Camorra in Napolis Kurven?

Zunächst einmal einen herzlichen Dank an „Fubin“, der sich als Napoletaner mit Kurvenvergangenheit einmal aus erster Hand zum Thema „Camorra und Curva“ in Neapel geäußert hat. Das Thema wird immer mal wieder von der Presse aufgegriffen, hier auf altravita hatte ich mich seinerzeit mit dem Artikel vom durchaus hervorragenden und von mir sehr geschätzten Journalisten Paolo Berizzi auseinandergesetzt: „Die Hände der Ultràs im Geschäft mit dem Fußball„. Wie zu erwarten, wurde der seinerzeitige Artikel bereits sehr kontrovers diskutiert, auch wenn mir die Einlassungen des Kommentatoren „Avanti Napoli“ jetzt weder stilistisch noch inhaltlich Anlass gaben, darauf näher einzugehen. Dank des Gastartikels von „Fubin“ ergreife ich aber jetzt sehr gern die Gelegenheit, mich zum Thema zu äußern. Bitte lest den Artikel von „Fubin“ aber vorher.

Zunächst einmal Grundsätzliches: Nein, ich habe keine persönlichen Kontakte zu den Ultràs im San Paolo. Ich nehme mir aber trotzdem grundsätzlich das Recht heraus, Dinge zu kommentieren, selbst wenn ich nicht persönlich dabei gewesen bin. Einerseits bin ich durchaus mit einem rudimentären gesunden Menschenverstand gesegnet, andererseits kann ich auch in meiner Kurve 5 Leute zu einem Thema befragen und erhalte 5 unterschiedliche Ansichten.

Nun aber zum Thema. Ja, die Aussagen von Emiliano Zapata Misso zur Verwicklung der Camorra in den Kurven des Neapolitanischen „San Paolo“ haben in Italien die Runde gemacht. Fakt ist, dass der Mann dabei war. Fakt ist auch, wie „Fubin“ richtig anmerkt, dass die Aussagen eines Beschuldigten durchaus mit Vorsicht zu genießen sind. Fakt ist aber auch, dass die Camorra der Hauptauslöser des „Müllproblems“ in Kampanien ist, das Berlusconi eigentlich 2008 für beseitigt erklärte. Rückblende: 2008 kam es zu organisierten Protesten der „Anwohner“ gegen moderne Müllverbrennungsanlagen und -halden in der Nähe Napolis. Die Camorra, die eben Millionen damit verdient, Gift- und Sondermüll unschlagbar günstig dadurch zu entsorgen, dass er in irgendwelchen Löchern vergraben wird, wird dieses sicherlich mit Wohlwollen gesehen haben. Die seinerzeitigen gewalttätigen Proteste sind in diesen Wochen wieder aufgeflammt. In der Nacht zu Sonntag wurden sechs Polizisten bei Protesten gegen eine Deponie verletzt, in Napoli selbst stapelt sich einstweilen wieder der Müll.

Ich bin ja hoffentlich unverdächtig, dem „Phänomen Ultrà“ als Gegner gegenüberzustehen. Aber ein paar Fragen bleiben dann – für mich – aber eben trotzdem unbeantwortet. Zum Beispiel: Warum protestieren Einwohner gegen offizielle Mülldeponien, wenn die Praxis der letzten Jahrzehnte darin besteht, Giftmüll wild in der Erde zu verscharren, wo er ins Trinkwasser gelangt und Krankheiten verursacht? Mir persönlich erschließt sich der Grund für diese äußerst gewalttätigen Proteste nicht von allein, insofern bin ich durchaus anfällig für die Theorie, dass die Camorra hier ein wirtschaftliches Interesse verteidigt. Und überhaupt: Ohne den von mir durchaus geschätzten Neapolitanern zu nahe treten zu wollen (ich fahre seit Jahren nach Kampanien in den Urlaub), wieso eigentlich stellt das Stadion „San Paolo“ in einer Stadt, die in vielen Lebensbereichen durchaus flächendeckend von der Camorra unterwandert ist, eine Art „Insel der Unschuld“ dar? Ist tatsächlich denkbar, dass die Camorra zwar verschiedene Stadtteile kontrolliert, aber keinerlei Einfluss auf die einzelnen Gruppierungen hat, die eben diese Stadtteile im Stadion repräsentieren? Achtung, ich meine nicht, dass die Kurven oder einzelnen Gruppen irgendwie „ferngesteuert“ sind.

Wie gesagt, mir fehlt das Fachwissen zum Thema und mit Sicherheit werde ich nicht Kopf und Kragen riskieren, um auch hierüber zu recherchieren. Aber ganz so einfach von der Hand zu wischen lassen sich die oben hingeworfenen Fragen dann vielleicht doch nicht. Ein weiterer von mir hochgeschätzter Journalist, Carlo Bonini von der Repubblica, hat sich des Themas in seinem unerreichten Buch „ACAB. All Cops Are Bastards“ bereits 2009 mit dem Thema beschäftigt und auch Ross und Reiter genannt. Selbstverständlich darf man nun entgegnen, dass auch Bonini weder Mafioso noch Napoli-Ultra sei, aber weder sein Buch noch seine zahlreichen weiteren Veröffentlichungen zum Thema geben mir Anlass zu denken, dass Carlo Bonini keine hervorragenden Quellen hätte, dumm wäre oder grundsätzlich Gegner der Ultrà-Bewegung sei:

Emiliano Zapata Misso war der Neffe des Camorra-Bosses der „Rione Sanità„, ein Stadtteil der historischen Altstadt Neapels. Sein Nachname ist alter Camorra-Adel. In der „Curva A“ standen 2008 die Mastiff, Rione Sanità, Teste Matte und die Masseria Cardone (letztere nur kurz). In der „Curva B“ stehen oder standen die Fedayin samt „O‘ Bandito“. Die Mastiff gibt es nun natürlich nicht nur in der Kurve, sie haben auch einiges Gewicht (manche sagen: Kontrolle) in den Stadtteilen Forcella, Piazza San Gaetano, Pietro Colletta. Daher noch einmal die grundsätzliche Frage: Wenn der Misso-Clan ein „quartiere“ Napolis kontrolliert, ist dann nicht denkbar, dass er auch einen Einfluss darauf hat, wer den Namen des Quartiers im San Paolo repräsentiert? Und ich meine nicht den Gang in die Kurve, ich glaube gern, dass man da frei hineingehen darf – ich meine eben die Zusammensetzung und das Auftreten der Gruppen.

Dasselbe gilt weitestgehend über die „Teste Matte“ (Curva A, Oberring zentral) aus den Vierteln Quarto und Pianura (eben 2008-2010 Schauplatz der Eskalation im Protest gegen Mülldeponien). Über die Teste Matte ist mittlerweile soviel geschrieben worden, dass das nochmal einen Extra-Artikel erfordern würde, daher nur kurz: der alte Kern besteht aus vielleicht 50 Personen. Die Capos sind die Brüder Proietti, die Brüder Nota, Vincenzo Grassi, Luigi Galatola, Gennaro Fiume. Ein Teil der Teste Matte begründet auch die NISS („Niente incontri, solo scontri“ – keineTreffen, nur Auseinandersetzungen“) und Leute wie Dario Di Vicino, Rosario Longobardi und Giovanni Maione möchte ich persönlich auch lieber nicht zum Feind haben. Ultràs im eigentlichen Sinne des Wortes!

Kurzum, an den Protesten nahmen und nehmen viele Leute teil, auch Alte mit Krückstock, Kinder oder Kriegsversehrte im Rollstuhl, Mütter. Und zum Protest sind die auch ganz alleine fähig (auch wenn ich mich frage, warum. Vielleicht kann mir hier jemand auf die Sprünge helfen.). Aber die ernsthafte Auseinandersetzung mit den eingesetzten Polizei-Spezialeinheiten braucht es meiner Meinung nach besseres „Know How“. Und hier lautet die von Emiliano Zapata Misso vertretene These, dass man dafür „Dario“ von den NISS anrufen müsste, Ultrà „Old School“ mit einer beeindruckenden Biografie. Und zu Darios Freunden gehören – wieder laut Misso – wohl die beiden Camorra-Größen des Quartiers, Carandente und Nonno. Und die Namen der Teste Matte, die bei den 2008er Ausschreitungen in Pianura dabei waren, sind auch gerichtsbekannt, „i migliori tra i guaglioni della paranza“: O’topo, Rafilone, Popoff, Scricciolo, Masaniello. Eingesetzt wurde „Stadionzeugs“: Klingen, Bengalos, Leuchtraketen, Stangen, Schals, Sturmhauben, Hass.

Wie gesagt, ich war nicht dabei und die Leute schreiben viel, wenn der Tag lang ist. Aber so ganz leichtfertig von der Hand zu weisen ist zumindest eine Beteiligung von neapolitanischen Ultràs dann vielleicht doch nicht. Und es geht sicher nicht um den Ticketverkauf oder Drogengeschäfte. Wie „Fubin“ so richtig schreibt, beschäftigt sich die Camorra mit solchen Kinkerlitzchen nicht. Das Müllgeschäft bringt aber Millionen. Nochmal: Ich will um Himmelswillen jetzt nicht so verstanden werden, dass Neapolitanische Ultrà-Gruppierungen strukturell von der Mafia organisiert werden. Mit Sicherheit besteht diese von mir durchaus respektierte Tifoseria aus tausenden einzelnen Individuen. Könnte man Massis Aussagen nicht einfach dahingehend interpretieren, dass es gewisse „Schnittmengen“ gibt? Dass die Mafia zur Bestandssicherung ihres Müllgeschäfts ein paar erfahrene Leute brauchte, die vor Ort den Zugang zur staatlichen Deponie versperren? Und dafür womöglich auf ein paar Leute zurückgriff, die mit sowas Erfahrung haben?

Und jetzt würde ich mir eine angeregte Diskussion wünschen, möglichst sachlich, möglichst fundiert. Ich selbst würde nämlich gern mehr wissen zum Thema. Bislang kann ich aber nur Fragen stellen.

„Dotto‘, dicono che avimm‘ a‘ fa‘ la raccolta differenziata.“ So isses.

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