Kategorien
Allgemein Fussball

Carlo Bonini – A.C.A.B. All Cops Are Bastards

Das wichtigste zu Beginn: Für dieses Buch lohnt es sich, italienisch zu lernen! Ich habe ja des öfteren darauf hingewiesen, dass „La Reppubblica“ eine der wenigen Printmedien ist, die sich dem Phänomen „urbane Gewalt im Fußballumfeld“ weitestgehend vorurteilsfrei und sachlich stellen und sich so angenehm vom verbreiteten dumpfen Einheitsbrei aus „böse Chaoten – gute Polizei“ (oder umgekehrt) abheben. Kern der recherchefreudigen Truppe ist der Journalist Carlo Bonini, der mit „ACAB“ nun ein Referenzwerk zum Thema vorlegt. Der Titel, 70er Jahre-Song der 4-Skins und heute Hymne und Markenzeichen von Ultràs, Hooligans und linken wie rechten Aktivisten ist hart, aber dem Thema angemessen und darf trotzdem niemanden dazu verleiten zu glauben, hier würde jemand sein Glück in einfachen Schuldzuweisungen suchen. Denn Unschuldige gibt es bei Bonini nicht, einfache Antworten schon gar nicht.

Bereits die ersten beiden Kapitel (eine Art Prolog, der in der Logik der Erzählung zum Epilog wird) zeigen die Spannungsfelder zwischen denen sich die hyperrealistisch geschriebene Geschichte bewegen wird: Das erste Kapitel erzählt von einem brutalen Überfall einer Überzahl von Napoli-Ultràs auf einen Fiat mit Laziali auf der Autobahn. Das Leben gerettet wird den Lazio-Fans letztendlich – Ironie der Geschichte – durch eine zufällig vorbeikommende Polizeistreife. Das zweite Kapitel besteht aus einer absatzweisen Gegenüberstellung des offiziellen Einsatzhandbuchs zum Schlagstockgebrauch mit einer kühlen Auflistung der Verletzungen von G8-Gegnern. Ich denke, ich brauche nicht anzumerken, dass es die geschilderten Verletzungen der Demonstranten nach normengerechtem Schlagstockeinsatz gar nicht hätte geben dürfen.

Und hier beginnt die Geschichte der drei Protagonisten von „ACAB“, Roms ehemaligem Vize-Polizeichef Fournier und den beiden Einsatzkräften der mobilen Polizei („celerini“) „Drago“ und „Lo Sciatto“. Anhand detaillierter Recherche (und offensichtlich hervorragender Quellen in beiden Lagern) wird deren Zusammentreffen in der 7. Römer Einheit (im folgenden nur noch die „VII“) geschildert, einer handverlesenen Gruppe von 70 der besten mobilen Polizeikräfte, die Rom aufstellen konnte. Wonach sich diese „besten“ definieren, soll im Verlauf des Buches noch überdeutlich werden. Kaserniert, militärisch gedrillt, bewusst mit Testosteron vollgepumpt, mit martialischem Kampfgerät ausgestattet (ein spezieller T-förmiger Metallschlagstock aus der Kampfsport, geeignet, „um Ochsenknochen zersplittern“ zu lassen) und streng rechter Gesinnung, wird die VII. im Zentrum der Übergriffe auf Demonstranten während des Widerstands gegen den G8-Gipfel 2001 in Genua stehen, als sie in einer macelleria messicana eine Schule von vernehmlich gewaltbereiten Widerständlern „säubern“. Die Ereignisse sind Zentrum eines medialen Sturms gegen Polizeigewalt und der folgenden Gerichtsverhandlungen und stellen auch die wiederkehrende Kernepisode oder „Ursünde“ von Boninis Buch.

Fournier wird im richtigen Leben der einzige sein, der sich gegen den Korpsgeist der Polizeitruppen wendet und in seiner Aussage die Unrechtmäßigkeit, nackte Gewalt und Blutdurst der VII in der Diaz-Schule bestätigt und seine eigenen „Kameraden“ im Prozess in Bedrängnis bringt. Dass dieses Verhalten von jenen nicht eben positiv aufgenommen wird, versteht sich von selbst und Bonini lässt in einem beeindruckenden Dokument einen Chat-Mitschnitt aus den internen Message-Boards der mobilen Einsatzkommandos des Innenministeriums sprechen. Bonini reportiert hier einen seltenen Einblick in die Denkweise der Männer hinter Maske und Schild, ein Dokument von faschistischer Gesinnung, Zusammengehörigkeitsgefühl, Aggression, Vorstadt-Herkunft und fehlendem Unrechtsbewusstsein. Einzelne Stimmen, die anmahnen, dass man in der Wahl seiner Mittel in diesem „Bürgerkrieg“ rechtsstaatlichen Grundsätzen unterworfen sei, werden von der Mehrheit des Rudels mit Hinweis eben auf Bürgerkriegs-Zustände totgebrüllt: Ehre! Kameradschaft! Treue!

Sieben Jahre später finden sich die 3 Hauptdarsteller aus „ACAB“ mitten im Auge des Tornados wieder, allesamt versetzt (die VII. wurde nach Genoa ebenso schnell wieder aufgelöst wie sie eigens für den Gipfel rekrutiert wurde), mit neuen Aufgaben betraut (Fussballstadien, Abschiebung illegaler Einwanderer, Bademeister…), teils vor Gericht gestellt: Im November 2007 wird an der Autobahnraststätte „Badia al Pino“ bei Arezzo der Lazio Ultrà Gabriele Sandri erschossen und was eben noch die Sicherung eines einfachen Fußballspiels im Römer Olympiastadion gegen Cagliari sein sollte, droht diesmal wirklich, zum Bürgerkrieg zu eskalieren. Gewaltepisodien aus Fußballstadien ziehen sich durch das gesamte Buch, „Lo Sciatto“ wird von einem Ultrà fälschlich exzessiver Gewalt angeklagt und kann vor Gericht – von Vorgesetzten verlassen – nur knapp seinen Hals aus der Schlinge ziehen (mit Hilfe seiner kommunistischen Anwältin; es gibt bei Bonini keine ideologischen Fixpunkte). Parallel dazu werden die Zusammenarbeit der Köpfe der Roma- und Lazio-Gruppierungen bei Übergriffen gegen illegale Barackenlager der Rumänen nach der Vergewaltigung von Giovanna Reggiani geschildert. Die Spannungen entlang der Bruchlinien der modernen italienischen Gesellschaft werden vibrant spürbar und auf der Straße werden sie ausgetragen. Es steht also eine neue Qualität der Gewalt ins Haus und die beteiligten „Celerini“ sind erfahren genug, zu ahnen, was sie erwartet – plötzlich finden sich tiefschwarze Ultràs ebenso faschistischen Polizeitruppen gegenüber und aus dem gegen illegale Ausländer noch kleinsten gemeinsamen Nenner „padroni della nostra terra“ („Herren über unsere Erde“) wird im Nachgang zum Tod Sandris eine Schlacht, einem Ausbruch von Hass. Und zwar eine Schlacht, bei der niemandem so richtig klar ist, auf welcher Seite er steht und für was er eigentlich kämpft – oder was die „Seiten“ eigentlich noch sind.

Bonini schildert akribisch die Vorgänge in Rom, als an jenem Novemberabend Polizeikasernen in Rom brannten und auf beiden Seiten dutzende Schwerverletzte zu beklagen waren, er beschreibt mittels Telefonmitschnitten die Kontaktaufnahme der ansonsten bis aufs Messer verfeindeten Ultrà-Gruppierungen, der aufsteigende Wille zur „Aktion“, die taktischen Absprachen und das höchst präzise koordnierte Vorgehen gegen die eilends zusammengezogenen und zahlenmäßig hilflos unterlegenen Polizeikräfte, die ins Feuer geworfen werden für Probleme, die ihnen ihre politischen Vorgesetzten zur Lösung überlassen, um sich dann ebensoschnell von ihnen zu distanzieren. Zum Einsatz kommen Nagelschußgeräte, Klingen, Steine, Tränengas, Molotov-Kocktails und Papierbomben, als sich die aufgestaute Wut beider Seiten, die sich gleichermaßen von Staat und Presse verlassen fühlen, gegeneinander in einer beispiellosen Gewaltorgie entlädt. Vom in der Ferne grummelnden „Assassini, Assassini“ und durch die Nacht eilenden vermummten Gestalten bis zur Explosion des Zerstörungswahns in flammenden Kasernen erzählt Bonini die Ereignisse dieser Nacht dokumentarisch, scheinbar aus Augenzeugenperspektive – ein literarischer Blick durch die wackelnde Handkamera.

Im Nachgang zu diesen Geschehnissen folgt noch ein Exkurs zur Beteiligung der gewalttätigsten Ultrà-Gruppierungen bei den Besetzungen von Müllkippen rund um Napoli. Auch hier ist Bonini wieder atemberaubend szenekundig und bereitet die Verbindungen der einzelnen Napoletaner Kerngruppierungen und deren Standorte im „San Paolo“ sowie deren Einflussbereiche im Stadtgebiet Neapels samt Verbindungen zu den Köpfen der organisierten Kriminalität auf. Und so stehen sich unsere Protagonisten den von der Mafia aufgebotenen Kampftruppen der BISL („Basta Infame Solo Lame“ – „Schluss mit Verrätern, nur noch Messer“) und NISS („Niente Incontri Solo Scontri“ – „Keine Zusammentreffen, nur Auseinandersetzungen“) am Ende in einem ebenso symbolisch aufgeladenen wie sehr realen Zusammentreffen wieder gegenüber. Während die Einsatzbeschreibung lediglich Proteste wütender Anwohner versprach, richtet unser „Gliellista“ (nach dem Tränengasgranatenwerfer GL-40 der italienischen mobilen Einsatzkommandos) seine Waffe bis zu den Knöcheln im Giftmüll stehend gegen den Bodensatz italienischer Ultràs, die an einer Straßenkreuzung einen Linienbus umgeworfen und in Brand gesteckt haben, um die Geldquellen der örtlichen Camorra zu sichern. „Was ist diese Gewalt und wo kommt sie her?“ fragen sich nicht nur die Beteiligten sondern auch der Leser.

Wer angesichts des deutlichen Titels jetzt ein Buch erwartet, das die „celerini“ verdammt und Ultràs romantisiert, wird enttäuscht. Bonini enthält sich jeder Wertung, er prangert Unrecht und Gewalt an, einen kaum noch nachvollziehbaren Straßenkampf im doch scheinbar so zivilisierten Italien. Er legt den Finger in die Wunde und schreibt ein Dokumentarbuch des Hasses, der sich in den Gedärmen des Landes abspielt und auf den Straßen ausgetragen wird. Ein abgrundtiefer Hass gegen die Politikerkaste, ausgetragen von den Verlierern sozialer Verwerfungen im Berlusconianischen Italien, die sich – eigentlich in denselben Umständen, in denselben Stadteilen aufgewachsen – plötzlich in einem Kampf ohne Regeln auf verschiedenen Seiten des Gesetzes widerfinden. Ein Hass gegen die Medien, gegen die Ungerechtigkeit, gegen die Arroganz illegaler Einwanderer, gegen den Mangel an Respekt und Anerkennung für die eigene Position. Beiden gemeinsam ist Unverständnis über die Aufbereitung des sonntäglichen Bürgerkriegs in den Medien. Ebenso deutlich wird das Gefühl der „celerini“, von den politisch Verantwortlichen im Stich gelassen worden zu sein, die sie in diesen Krieg geschickt haben. „Wer deckt uns denn den Arsch, wenn irgendwas schief läuft? Die da oben etwa?“ Wenigstens hier hat Bonini ein lang erwartetes und unbedingt notwendiges Buch geschrieben. „Osservatorio sulla Repressione“ beschliesst ihre Rezension mit den Worten, denen ich mich anschließen möchte:

„Ci sono mali tra cui scegliere, nessun santo a cui votarsi, ma qualche diavolo minore. Qualcuno potrà accusare Bonini di aver contratto una „sindrome di Stoccolma“ verso i celerini. Chi pensa che „tutti i poliziotti siano bastardi“ non legga questo libro, ma neppure chiami mai il 113.“

Es gibt verschiedene Übel zur Auswahl, keine heilige Instanz, der man sich zuwenden könnte, höchstens irgendein untergeordneter Teufel. Man könnte Bonini vorwerfen, vom „Stockholm-Syndrom“ gegenüber den Einsatzkräften befangen worden zu sein. Wer glaubt, dass „alle Polizisten Bastarde“ sind, braucht dieses Buch nicht zu lesen, dann aber auch nicht die 113 anrufen.“

Ein packendes, wahres Buch, ein journalistisch gutes Buch und ein unendlich trauriges Buch. Unschuldige gibt es nicht, aber einen ebenso verstörenden wie erhellenden Einblick in das, was sich jeden verdammten Sonntag im Land, wo die Zitronen blühen, zuträgt. Bonini schreibt eine Dokumentation des reinen Hasses – eines Hasses, für den nicht die verantwortlich sind, die ihn austragen – und die archaische Werte wie Kameradschaft, Ehre und Treue, wie verdreht und pervertiert auch immer, über das als korrupt und ungerecht empfundene Gesetz stellen und sich verzweifelt daran festhalten. Ein Gesetz, das sich mit jedem Sonntag mehr von ihrer Lebenswirklichkeit entfernt. Ein Buch, das eine Wirklichkeit darstellt, die von Gewalt und Frustration getränkt ist, von Wut in einer Welt, die ihre Spielregeln verloren hat, ein Buch, in dem sich der Autor beiseite nimmt und von einer Außenposition ganz normale Menschen mit Vornamen, Eheproblemen und einer Vorstadtbiografie betrachtet, die das Leben auf die eine oder andere Seite der Frontlinie gespült hat und die – sicher mit den falschen Mitteln – Antworten auf eine Frage suchen, die nicht ihre ist.

Carlo Bonini – ACAB. All cops are bastards
196 pag., 16,50 € – Edizioni Einaudi 2009 (Stile libero Big)
ISBN 978-88-06-19469-7

21 Antworten auf „Carlo Bonini – A.C.A.B. All Cops Are Bastards“

[…] Stattdessen dokumentiert die Berichterstattung zunächst grösstenteils Beschwichtigungen wie Torwart Gigi Buffon, der zwar Beleidigungen gehört hat, allerdings nichts rassistisches und überhaupt solle der Junge mal aufpassen, dass er mit seinem Verhalten nicht das Publikum provoziert. Zusammengefasst: Der soll sich mal nicht wundern. Etwas anderes hätte ich von einem bekennenden Faschisten nun auch nicht erwartet – beklemmend ist, dass Zehntausende mitmachen. Wie gesagt, Balotelli wird auffällig unsympathisch wahrgenommen und dass die gegnerischen Tifoserien auf ihn einschießen, hat er sicherlich zu einem guten Teil sich selbst zuzuschreiben. Wieso sich der Hass dann aber nicht gegen Balotelli den “Provokateur” richtet, den “Schwalbenkönig”, den “Großkotz” mit der “albernen Frisur”, sondern nun gegen das einzige Merkmal, das überhaupt gar nichts mit irgendwas zu tun hat – seine Hautfarbe – ist ein armseliges Beispiel für den Rechtsruck in italienischen Stadien. […]

das buch klingt echt gut. wär auf jeden fall eines, das übersetzt werden sollte. so wie „tenetevi il milliardo“, die biografie von lucarelli.

in sachen bürgerkreig auf den straßen gab es in den 90igern ein interessantes buch des künstler-aktivist_innen-kollektivs critical art ensemble zum neuen entwicklung im kapitalismus & möglichen (künstlerischen) interventionen. die straße und der öffentliche raum wurde dabei auch bearbeitet.

im kapitel „nomadic power and cultural resistance“ (pdf) des buches electronic civil disobedience steht folgendes, was meiner ansicht nach sehr gut auf das beschrieben phänomen paßt.

Giving the street to the most alienated of classes ensures that only profound alienation can occur there. Not just the police, but criminals, addicts, and even the homeless are being used as disrupters of public space. The underclass’ actual appearance, in conjunction with media spectacle, has allowed the forces of order to construct the hysterical perception that the streets are unsafe, unwholesome, and useless. The promise of safety and familiarity lures hordes of the unsuspecting into privatized public spaces such as malls. The price of this protectionism is the relinquishment of individual sovereignty. No one but the commodity has rights in the mall. The streets in particular and public spaces in general are in ruins.

Ne Übersetzung wär was für Stadionwelt.
OffTopic: Wann hörts hier eigentlich mal auf zu schneien? 😉

Das hoffe ich auch sehr. Ich fürchte aber, dass sich kein deutscher Verlag an dem Thema die Finger verbrennen will. Aber ab und zu wird der Mann ja wenigstens ins Englische übersetzt…

Guten Abend Herr Lehrer,

das von Ihnen empfohlende Buch wird natürlich gekauft.

Danke und Grüße,
Stephan

Carlo Bonini – A.C.A.B. All Cops Are Bastards…

Das wichtigste zu Beginn: Für dieses Buch lohnt es sich, italienisch zu lernen! Der Journalist Carlo Bonini legt mit „ACAB“ ein Referenzwerk zum Thema Gewalt in italienischen Fußballstadien vor. Der Titel, 70er Jahre-Song der 4-Skins und heute Hymn…