Endzeitroman. Der Fiorentina-Ultra Domenico Mungo erzählt in „Streunende Köter“; von Idealen, Solidarität und Kämpfen, von seiner Bewegung und seiner Jugend. Sein Übersetzer Kai Tippmann spricht im Interview über das Ende der italienischen Ultras, historischen Unfug in deutschen Medien und Parallelen des Buches zu den „Simpsons“.
Interview: Jakob Rosenberg
Massenverhaftungen, Verfolgung und Exil. Domenico Mungo wählt ein düsteres Szenario als Rahmenhandlung seines Romans „Cani Sciolti“ („Streunende Köter“). Der namenlose Protagonist ist wie Mungo ein Ultra-Schriftsteller. Nach dem Tod des Polizisten Filippo Raciti beim sizilianischen Derby zwischen Catania und Palermo am 2. Februar 2007 beginnt eine Hexenjagd auf die italienischen Kurven. Die Ultra-Autoren flüchten ins fiktionale Exil in die Schweiz und sammeln unterwegs Material zur Dokumentation einer Bewegung, die vor ihrer Zerschlagung steht. Die E-Mails, Telefonate und Zeitungsberichte, die Mungos Protagonisten zur Dokumentation dienen, geben dem Buch seine sprachliche Vielfalt. Die unterschiedlichen Stile und Erzähler drücken die vielen, teils widersprüchlichen Geschichten der italienischen Ultra-Bewegung aus. Sie erzählen aus Zügen und von Autobahnraststätten, zitieren aus Flugblättern und Polizeirapporten, berichten vom gemeinsamen Zeitvertreib, von Drogen und gewalttätigen Auseinandersetzungen mit gegnerischen Fans und der Polizei. Eine ganz normale Jugend im Italien der 1980er und 1990er Jahre. Der Blogger Kai Tippmann hat „Cani Sciolti“ für den deutschsprachigen Markt übersetzt.
ballesterer: Die mediale Diskussion über Ultras wird in Deutschland aktuell vom Thema Gewalt beherrscht. Inwieweit wollen Sie mit der Übersetzung von „Streunende Köter“ Einfluss auf die Szene nehmen?
Kai Tippmann: Ich glaube, dass Jugendbewegungen eigene Dynamiken haben, die nicht durch ein Buch in die eine oder andere Richtung bewegt werden können. „Streunende Köter“ handelt von den italienischen Ultras der 1980er und 1990er Jahre. Gewalt war ein wichtiger Bestandteil der Ultra-Definition, sowohl zwischen den Gruppen als auch gegen die Polizei als Repräsentantin des feindlichen Systems. Diese Gewalt wird im Buch nicht von vornherein moralisch verurteilt. Schon aufgrund der unterschiedlichen historischen Situation würde ich anhand des Buches aber keine Gewaltdiskussion zur Situation im deutschen Sprachraum führen wollen.
Auf die Gewalt folgte in Italien die Repression. Lassen sich da Parallelen herstellen?
Die Höhepunkte der Gewaltepisoden haben eine immer engere Repressionsspirale in Gang gesetzt. Man kann also darüber nachdenken, was in Italien passiert ist und wie sich ein entsprechendes Ende der Ultra-Bewegung im deutschsprachigen Raum vermeiden ließe. Dabei muss man aber auch bedenken, dass die Gewalt in Italien nicht losgelöst von politischen und sozialen Entwicklungen stattgefunden hat: Italienische Verhältnisse meinen eine radikalisierte, am Rand des Bürgerkriegs stehende Gesellschaft. In diesem Kontext war die Gewalt ganz anders dimensioniert als im deutschsprachigen Raum. Mit anderen Worten: Bei der Repression gegen Ultras ist es in Italien nicht um Pyrotechnik im Block gegangen. Das hätte niemanden interessiert. Die deutschsprachigen Medien meinen aber genau das mit italienischen Verhältnissen. Das ist historischer Unfug.
Haben Sie den Roman mit historischen Erklärungen ergänzt?
Es gibt keinen Appendix, und ich habe weitgehend auf Fußnoten verzichtet, weil es sich nicht um ein populärwissenschaftliches Werk auf einer Metaebene handelt. Es ist ein Roman, der seine Wucht aus der Unmittelbarkeit beziehen soll.
Besteht nicht das Risiko, dass das Buch ohne diese zusätzlichen Informationen nur schwer verständlich ist?
Man kann es auf unterschiedlichen Ebenen lesen und deuten. Das ist ja kein Nachteil. Ich schaue mit meinem zwölfjährigen Sohn gerne die „Simpsons“. Wir lieben das beide, obwohl wir sicher andere Sachen sehen. Ich denke, dass das Buch ähnlich funktioniert. Es beschreibt Szenen aus dem Alltag, in denen sich jeder, der schon einmal auf Auswärtsfahrt war, wiedererkennen kann. Es geht nicht nur um Gewalt und eine gesellschaftspolitische Auseinandersetzung, vieles stammt aus der Mitte der Kurve. Das Buch soll einen Italienexperten genauso ansprechen wie einen 15-jährigen Ultra aus Paderborn.
Wie wollen Sie beziehungsweise der Autor Mungo das erreichen?
Wir wollen vermitteln, worin die Begeisterung des Ultra-Daseins besteht. Warum Jugendliche ihre Zeit und ihr Geld dafür verwenden, auswärts zu fahren, nächtelag Choreografien vorbereiten und ihr Team in der Kurve unterstützen. „Streunende Köter“ macht aber auch deutlich, dass die Ultras eine eigene Geschichte verdienen. Dass das nicht nur in Büchern, journalistischen Artikeln, wissenschaftlichen Abhandlungen über Ultras passiert, sondern dass sie ihre Sichtweise selbst einbringen können.
Der Titel „Cani Sciolti“ bezeichnet im Italienischen Ultras, die sich unabhängig von einer Gruppe und verdeckt unter gegnerische Fans mischen, um dort Auseinandersetzungen zu führen. Bei der wörtlichen Übersetzung „Streunende Köter“ geht diese Bedeutung verloren. Soll das Buch den Begriff ins Deutsche einführen?
Ich habe mich schlussendlich für den Titel entschieden, weil er Mungos Biografie persönlich sehr gut trifft. Als ein in Turin geborener und lebender Fiorentina-Ultra ist er ja ein Sonderfall. Er war sein ganzes Leben lang nur auf Auswärtsfahrt. Er ist Woche für Woche allein zum Spiel gefahren, um dort am Gruppenleben teilzunehmen. Der Begriff spielt mehr auf eine biografische Besonderheit und weniger auf die „Cani Sciolti“ an.
Ist das Buch ein Nachruf auf die italienische Ultrabewegung?
Ja, das würde ich so sehen. In einigen Kapiteln ist eine Abrechnung zu erkennen. Das betrifft Fehlentwicklungen innerhalb der Kurve genauso wie die überbordende staatliche Repression, die gemeinsam dazu geführt haben, dass wenig von dem übrig geblieben ist, was Mungo als Ultra bezeichnen würde. Es ist sowohl ein Nachruf auf die eigene Jugend, weil sich die Ausdrucksformen geändert haben, als auch auf die Ultra-Bewegung, weil es diesen Generationenkonflikt über vier Jahrzehnte in Italien so nicht gegeben hat. Dass sich die ältere Generation abwendet und sich große Gruppen auflösen, ist ein Phänomen der 2000er Jahre.
Sind die Ultras in Italien heute nur noch „Cani Sciolti“?
So weit würde ich nicht gehen. Es geht aber in Richtung „erweiterter Freundeskreis“, der mit verdeckten Farben unterwegs ist, um der Repression zu entgehen. Die Zeiten der großen Gruppen mit 5.000 bis 10.000 Mitgliedern sind seit rund 15 Jahren vorbei. Es gibt zwar immer noch viele organisierte Gruppen, sie sind aber kleiner und weniger homogen.
Die Kurven im deutschsprachigen Raum sind heute zumeist deutlich bunter und kreativer. Gleichzeitig gibt es aber immer noch einen starken Fokus auf Italien. Inwiefern ist das ein verklärter Blick?
Der ist sicher eher nostalgisch gefärbt, viele Italienfahrer sind vom Zustand der Kurven enttäuscht. Die meisten Gruppen haben ihren Blick in Richtung Griechenland und Türkei gewandt oder ihre eigene Kreativität entwickelt. Vielleicht kann das Buch den Blick auf die Vergangenheit ein wenig zurechtrücken und Einblicke geben, die in Deutschland gar nicht bekannt sind. Diejenigen, die sich bisher nur an den choreografischen Aspekten orientieren konnten, sollen einen Eindruck bekommen, was in Italien sonst noch passiert ist.
Zur Person: Der Milan-Fan Kai Tippmann (40) betreibt von seinem Wohnsitz am norditalienischen Lago Maggiore aus den Blog altravita.com. Die „Betrachtungen eines Deutschen in Italien“ konzentrieren sich auf Fußball und die italienische Ultra-Bewegung. Im November 2010 erschien mit Giovanni Francesios „Tifare Contro. Eine Geschichte der italienischen Ultras“ die erste Übersetzung aus Tippmanns Ultra-Reihe bei Burkhardt & Partner.
Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Fußballmagazins ballesterer.
Ballesterer Interview – Domenico Mungo: Streunende KöterInterview als pdf herunterladen.
2 Antworten auf „Ultras verdienen eine eigene Geschichte“
[…] herum, als immer propagiert wird. An dieser Stelle lohnt sich der oftmals demagogisch beschworene Blick nach Italien tatsächlich: Was ist dort nach der weitgehenden Zerschlagung der Ultra-Kultur übrig geblieben? […]
[…] herum, als immer propagiert wird. An dieser Stelle lohnt sich der oftmals demagogisch beschworene Blick nach Italien tatsächlich: Was ist dort nach der weitgehenden Zerschlagung der Ultra-Kultur übrig geblieben? […]