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Domenico Mungo: „Sensomutanti. Die Liebe in den Zeiten des Stadionverbots“

„Wie konntet ihr nur die unrechtmäßigen Kinder dieser perfekten Gesellschaft werden, die wir euch doch so hübsch verpackt zur Verfügung gestellt haben? Da muss sich irgendwo ein Fehler eingeschlichen haben, ihr wart überhaupt nicht vorgesehen. Neurotisch, nervenschwach, psychopathisch, gewaltkrank und mit einem übersteigerten Geltungsbedürfnis? Sicherlich. Wie sollten wir denn sonst sein? Es ist wahr, alles passt zusammen. Wir sind so, wie ihr uns zu sein erlaubt. Wir nehmen uns das, was ihr uns zugesteht. Die Bruchstücke des Glücks. Die Negation von Allem erreicht man über die Freude darüber, den Gartenzaun aus den Angeln zu heben, illegal all das zu beschaffen, was uns von Natur aus zusteht.“

Hier nun endlich mein x-ter Versuch, Domenico Mungos „Sensomutanti“ in Worte zu fassen, wohl wissend, dass diese Aufgabe unerfüllbar ist. Weil „Sensomutanti“ viele Bücher ist, weil es sich willentlich der einfachen Klassifikation entzieht, weil Mungo Schreibstile, Erzählperspektive und Vokabular nach Belieben wechselt und vor allem, weil es hinter dem allen keine einfache Wahrheit gibt, die man konsumieren kann. Hilfe vom Autoren bei der Dechiffrierung gibt es nicht, die Bedeutung muss man sich schon selbst erarbeiten, nichts wird glorifiziert, entschuldigt, erklärt oder auch nur verklärt. Mungo bezeichnet sich selbst als „Lehrer für Geschichte, Literatur und Kommunikationswissenschaften, Autor, Dichter, Essayist, Musik- und Literaturkritiker, Herausgeber von ‚Supertifo‘, Berater für Kulturprojekte, künstlerischer Leiter für Festivals und Konzerte, Anarchist, Antiklerikaler, Ultrà der Fiorentina“. All dies findet in „Sensomutanti“ seinen Niederschlag.

Einerseits und zunächst einmal ist es ein spannender Roman, intelligent, stilistisch fortgeschritten, belesen und geerdet. Die beiden Protagonisten, Ultràs der Fiorentina, befinden sich auf einer Reise zu einem Auswärtsspiel nach Bergamo. Die Charaktere sind fiktiv, die Ereignisse nicht zwingend genau so abgelaufen. Andererseits entstammen die Protagonisten durchaus der Realität, ebenso wie die Schauplätze, die beteiligten Personen der Zeitgeschichte, die Gruppierungen, die Mannschaften, die Spieler, die Bands oder die zitierten Schriftsteller. Ein Roman, der mit der Wirklichkeit verflochten bleibt, weil unzweifelhaft eigene Erlebnisse, Reflexionen und Philosophien sich an Ereignissen der neueren italienischen Geschichte entlanghangeln. Fiktiven, aber durchaus realistischen Episoden, wie dem doppelten Polizistenmord an einer Autobahnmautstelle vor Bergamo oder dem Taxi-Mord an einer Prostituierten in Turin stehen Mahnmale der jüngeren italienischen Geschichte zur Seite: die Todesschüsse auf Carlo Giuliani (dem das Buch i.ü. gewidmet ist, die Geschehnisse in Genua nehmen breiten Raum ein) während des G8-Gipfels in Genua oder der Brandanschlag auf einen Zug von Bologna-Fans durch die „Alcool Campi“. Daneben eine Unzahl von Episoden aus dem Leben der Kurve, der Anarchisten, der Raver, aus drogenerhitzten Nächten und Tagen im Eisregen einer Stadionkurve, Prostituierte, Porno-Darstellerinnen und immer wieder Polizisten.

Mungo definiert „Sensomutanti“ als „surreale Reise zweier Fans der Fiorentina auf Auswärtsfahrt nach Bergamo“ und in einem sehr übertragenen Sinn ist es das auch. Mungo, lange Jahre in erster Reihe der Florenzer „Curva Fiesole“ und bekannter Kopf des „Collettivo Autonomo Viola“ erzählt von einer Reise. Und wie wenn man die endlose Tristesse der Poebene im Zug durchquert und dabei durch die verregneten Fenster schaut, schweifen die Gedanken ab und drehen sich um das Ziel, oder um den Beginn, um Freunde und Feinde, die man erwartet oder am Bahnsteig zurückgelassen hat. Und so spuken durch die einzelnen Etappen des Romans immer wieder Rückblicke, Reflexionen, Erinnerungen und Augenzeugenberichte. Mannschaften, Spieler, Freunde, Bands, Schriftsteller, Philosophen. Ultràs.

„Wir eroberten Rimini an einer Montagnacht Ende Februar, warfen Papierbomben und Signalraketen auf die Carabinieri in unserem Sektor. Wir fuhren mit 3.000 nach Imola, wo Christian durch eine mörderische Tränengasgranate, die auf Mannhöhe explodierte ein Auge verlor.“

Immer aber erzählt Mungo vom Rand der Gesellschaft, aus der Position des Ausgegrenzten, Marginalisierten. Denn nichts beschreibt eine Gesellschaftsordnung so präzise wie das Aufspüren dessen, was sie ausgrenzt und verneint. Mehr als einmal definiert Mungo Ultràs als Abschaum, Müll von der nutzlosen Abraumhalde der society. Was aber, wenn diese Ausgegrenzten – Söhne und Töchter der Gesellschaft – nicht nur eine Stimme haben, die es anzuhören gilt, sondern all das verteidigen, was unser Wertekanon eigentlich meint, in Wirklichkeit aber unterdrückt, bekämpft und mit Schlagstöcken und Tränengasgranaten auslöscht? Was, wenn Ultràs, Anarchisten, Black Block, Punks, Skins, Junkies und andere Unangepasste in schönster Hegelscher Dialektik eben trotz alledem Teil sind – und sei es als Kehrseite der Medaille? Und was, o graus, wenn diese „Leute der Nacht“, dem braven Bürger eine Wirklichkeit vorhalten, die dieser ums Verrecken nicht wahrhaben will an sich? Was, wenn man in einem auf Antagonismus gebürsteten Staat einfach einmal Widerstand lebt?

„Vielleicht tut dies alles nicht weh. Vielleicht sorgt das nur dafür, alles ein bisschen zu verlangsamen, indem es in einen chloroform-getränkten Wattebausch getaucht wird, der das Brennen unserer Narben anästhetisiert. So wie Kokain den Mund und die Nase taub gegenüber den unheilbaren Wunden der Normalität macht, den Gliedmaßen erlaubt, zu mutieren und sich zu durchdringen, indem es den Schmerz unterdrückt und die Erinnerung auslöscht.“

Mungo spricht mit dem Vokabular und dem Bewusstsein eines Lebens außerhalb der bequemen Normen der Mehrheitsgesellschaft. Er erzählt von denen, die als Restmüll unserer hochtechnologisierten und keimfreien Realität übrig bleiben. Die sich ums Verrecken nicht verwerten lasen. Wollen. Die trotz allem den echten Schmerz des Schlagstocks der Pseudo-Befriedigung des Shoppingparadieses vorziehen. Die lieber mit ihren Freunden in irgendeiner verranzten Stadionkurve stehen, als zu Weihnachten das „Fest der Familie“ zu simulieren. Lieber echten Schmerz als echte Frustration. Mungo gibt denen ein Wort, die sonst keine Stimme haben, die nicht erzählen wollen und denen niemand zuhören will. Eine Gesellschaft außerhalb der Gesellschaft, die ausgegrenzt, eingesperrt, niedergeknüppelt, abgeknallt gehört. Vom Sofa aus betrachtet, versteht sich. Denn wenn das Buch überhaupt etwas vermittelt, dann dass unter diesen scheinbar Aussätzigen ein menschlicher Wertekanon weiterlebt, dessen sich der postmoderne Industriekapitalismus in Wirklichkeit schon lange entledigt hat. Insofern sind Mungos Hauptdarsteller radikal bis aufs Blut. An die Stelle von „simuliertem Leben“ setzt der Autor ein, sagen wir es ruhig, archaisches und tribalistisches Wertesystem: An die Stelle einer als falsch empfundenen Gesellschaft, die menschliche Grundbedürfnisse mit Simulationen befriedigt, setzt Mungo die Koordinaten seines Stammes: Treue, Ehre, Freiheit, Selbstermächtigung, Wahrheit. Und wenn dies zulasten der Mehrheitsgesellschaft geht, dann umso besser.

„Bah, wenigstens haben WIR gelebt. Selbst jetzt, wo der Regen mir über das Gesicht strömt. Selbst jetzt mit zersplitterten und gelähmten Beinen, die auf eine unnatürliche und obszöne Weise verdreht sind. Selbst jetzt, mit auf dem Pflaster zerquetschten Rücken, lieber sterben als für immer von der Gnade anderer abhängig leben. So wie Antonello, wie Licari…“

Einer Welt, die die eigene gesellschaftliche Relevanz anhand der Anzahl der Freunde im Facebook-Profil definiert, setzt Mungo den Zusammenhalt der eigenen Leute, „meine Brüder“, entgegen, die einzigen, die einem wirklich den Arsch retten, wenn man sich von Schlagstöcken umringt sieht und alle anderen schon geflohen sind. Einer Welt, die sich milliardenfach täglich Banalitäten per SMS austauscht, setzt Mungo den sauberen Schlag in die Fresse als Form unvermittelter und direkter Kommunikation entgegen. Einer Gesellschaft, die alles assimilieren kann, was sich ihr unterwirft, antwortet Mungo mit konsequenter Verweigerung – Doppelmoral wird nicht erlaubt, wenn ich die herrschende Moral ablehne, dann schaffe ich mir eine neue. Um den Preis, als amoralisch dazustehen. „Jenseits von Gut und Böse“ hat er gelesen, der Mungo. Und was noch besser ist: er hat Nietzsche verstanden. Einer Welt, die medial zwar jede Art von Gewaltanwendung brandmarkt, die facto allerdings Gewalt auf jeder Ebene zum sinnstiftenden Prinzip erhoben hat, hält er einfach den Spiegel entgegen: Ich bin so, wie ihr mich haben wollt heißt ein Kapitel. Eine postindustrielle Gesellschaft, die jedem, der sie nicht infrage stellt, Ruhe und materielle Sicherheit verspricht. Auf Kosten echter Leidenschaft, auf Kosten der Freiheit, auf Kosten all dessen, was Mungo für „menschlich“ hält. Auch wenn er das natürlich so niemals sagen würde. Eine Gesellschaft, die Auschwitz und Hiroshima genauso hervorbringt wie Ultràs. Auch wenn das natürlich so niemand sagen würde.

„Dies ist der Klang des Turins, das es nicht mehr gibt. Dies ist der Klang des Turins, das unter der Flut von Zement und Stahlträgern untergeht, die Fabriken, Parks, Bäume und Flüsse in Mega-Einkaufsparadiese und Multisaalkinos zur Aufführung hollywoodianischer Multischeiße verwandeln für die tausenden Hirnamputierten des Samstagabends und die Familien, die den Frieden und das Glück des christlichen Weihnachtsfests suchen. Dies ist der Klang eines Arbeiters, der Mensch ist. Und keine Humanressource.“

Das ganze ist ebenso unmittelbar wie schwer zu verdauen, wenn man sich auf das Buch einlassen kann, trifft es wie eine Faust in die Magengrube. Weitere Erkenntnisse gewinnt man, wenn der erste Eindruck abgeklungen ist. Das sprachlich äußerst politisch unkorrekte, erzählerisch mindestens schizophrene und stilistisch nur lose geordnete Werk hat es aber trotzdem aus dem Stand auf Platz 2 meiner Hitliste „Bücher, die mein Leben veränderten“ geschafft. Aber es geht dem Autoren auch nicht um Erklären oder Rechtfertigen, seine Helden sind Anti-Helden in jedem denkbaren Sinne: brutal, rücksichtslos, unangepasst, dreckig, drogensüchtig, radikal anti. Und dabei stolz. Die Kurve ist (oder besser: war) für Mungo ein Ort der Freiheit. Ein Ort, in dem die Regeln und Gesetze einer kranken Gesellschaftsordnung nicht gelten. In dem es aber durchaus Regeln und Gesetze und Hierarchien gibt. Nur eben selbst gesetzte. Der Vollkaskomentalität, die dem Individuum wohl Sicherheit gibt, wird von Mungo als potentiell (oder besser: durchaus real) als faschistisch entlarvt, indem sie materielle Sicherheit nur dem verheißt, der seinen eigenen moralischen Kompass, seine Leidenschaften und besonders seine Freiheit an der Garderobe abgibt. Für alles andere gibt es Schlagstöcke und CS-Granaten.

„In der Zwischenzeit zerlegte zu unser aller Freude irgendein Spaßvogel in Viola das Vorhängeschloss der Gerätekammer des Gärtners vom Brumana: ich sah mit eigenen Augen Leute mit Motorsägen, Bohrern, Spaten und Harken, Eimer und Spitzhacken, Holzleitern, Hühnern!!!, Stühlen und Gummistiefeln in den Fäusten und am Ende kam auch sogar jemand mit einem Fahrrad! Mit dem ganzen Zeug trieben wir uns auf den Rängen herum. In der Zwischenzeit war das violette Volk in Massen eingetroffen, die Kurve war zu zwei Dritteln Viola, eine Kette aus Carabinieri und die Leute aus Bergamo in einer Ecke verkrochen. In der anderen Kurve spuckten die Bauern Gift und Galle, schäumten vor Wut und Rachegelüsten, aber sie konnten nichts tun! Sie sangen und später passten sie uns am Bahnhof ab, aber in der Zwischenzeit machten wir, worauf wir gerade Bock hatten in ihrem Zuhause.“

Man muss Mungo in seinen Einsichten nicht folgen. Man kann ihm vom Sofa aus alles mögliche ankreiden. In jedem Fall lernt man eine Menge über unsere schöne neue Welt, egal für welche Seite man sich entscheidet, Soma oder keins. Und man lernt eine Menge über das Leben im wirklichen und eigentlichen Sinne. Alkohol und Adrenalin. Und jede Menge Testosteron. Geiles Buch.

Sensomutanti kann – leider nur im italienischen Original – bei Boogaloo Publishing bezogen werden.

Einen kleinen Ausschnitt zum Lesen gibt’s hier.

6 Antworten auf „Domenico Mungo: „Sensomutanti. Die Liebe in den Zeiten des Stadionverbots““

Buchrezension: Domenico Mungo: „Sensomutanti.“…

Einerseits und zunächst einmal ist es ein spannender Roman, intelligent, stilistisch fortgeschritten, belesen und geerdet. Die beiden Protagonisten, Ultràs der Fiorentina, befinden sich auf einer Reise zu einem Auswärtsspiel nach Bergamo. Die Charakter…

Tja, aber wie ich gestern schon beim Lesen der Rezension dachte: Was soll sie sein, diese Identität? Worauf wird da beharrt? Auf Verein, Fabrik, Kirchturm, Arbeiterklasse, Kommunismus, Männlichkeit? Sind das nicht immer auch zum Scheitern verurteilte Konzepte, bzw. Identitäten, die lange nicht so fest sind, wie sie daherkommen? Was wäre so schlimm an einer multiplen, offenen, nicht-identischen Identität? Warum Fight Club statt Sesseln mit Armlehnen?

Grenzüberschreitung in jedem Sinne ist übrigens das zweite Hauptthema des Buchs. Hier bietet sich aber eine psychologische Lesart an. Es gibt sicher genügend Schnittmengen, aber die Rezension ist ja eh schon viel zu lang und zu kopflastig.