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Eine kleine Genealogie der Gewalt

Eines der Kernthemen in der öffentlichen Wahrnehmung von Stadionkurven ist Gewalt. Ob es sich dabei, wie beim Platzsturm in Düsseldorf oder beim Einsatz von Pyrotechnik, um dargestellte bzw. wahrgenommene Gewalt handelt oder, wie bei der fröhlichen Europameisterschaft der Sonntagsfahrer des Fußballs, um tatsächliche, spielt in der Diskussion um Fußballfans kaum mehr eine Rolle. Der Topos „Gewalt“ überlagert in der öffentlichen Wahrnehmung mittlerweile alle anderen Aspekte von Fankurven. Überwachungskameras, Leibesvisitationen, Stadionverbote, personengebundene Tickets, Schnellgerichte im Stadion und was die Phantasie der Law & Order-Verfechter noch so hergibt, werden immer mit Gewalt begründet. Die Statistiken geben hingegen seit Jahren keinen Anstieg bei der Stadiongewalt – also Gewalttaten im Umfeld von Fußballveranstaltungen – her, weniger noch kann die ständig heraufbeschworene „neue Qualität“ der Gewalt faktisch belegt werden. Ein wenig sollte sich auch herumgesprochen haben, dass es bis auf weiteres statistisch deutlich sicherer ist, ein Fußballspiel zu besuchen, als Großveranstaltungen wie Oktoberfest oder Love Parade. Ältere Stadiongänger werden nicht müde, sich zu erinnern, dass das Thema „Stadiongewalt“ in den 70ern und 80ern deutlich ernster war, als ein eher weniger eventorientiertes Publikum seine Kurven handfest gegen alles mögliche verteidigte, was da womöglich hätte eindringen können: von Schwarzen bis zu Studenten. Was sich geändert hat, ist die mediale Darstellung und mithin die „wahrgenommene Gewalt“ beim Zuschauer oder Leser. Waren noch in den 90ern ein Platzsturm „Ausdruck überschäumender Freude“ und der vor Pyrotechnik brennende „Betze“ eine „atemberaubende, südländische Atmosphäre“, sind beide heute nur noch eins: Gewalt. Die verfrühte Aufstiegsfeier der Düsseldorfer ist 2012 ebenso „Gewalt“ wie die Rauchtöpfe der Kölner im Müngersdorfer Stadion, nachdem der Abstieg besiegelt wurde.

Wo aber ein einziges Wort ausreichen soll, um die unterschiedlichsten Dinge zu beschreiben, die Millionen an Fußballfans in einer Saison im Stadion so anstellen können, wird klar, dass das Ergebnis nur ein erkenntnisloser Brei sein kann. Ein Wort, das alles beschreibt, sagt letztlich genau wieder nichts aus. Was ich von der Aufbereitung der Stehplatzfans für die deutschen Fernsehfans halte, habe ich ja des öfteren geschrieben, zuletzt über die Arbeit von ARD und ZDF bei der Erfindung einer Gewaltspirale. Trotzdem gibt es selbstverständlich Gewalt bei Fußballspielen, während Auswärtsfahrten, auf Autobahnrastplätzen. Die Kölner „Wilde Horde“, die Busse überfällt, die Münchner „Schickeria“, der vorgeworfen wurde, dass einige ihrer Mitglieder einen Nürnberger Bus mit Flaschen beworfen haben, wobei eine Mitreisende ein Auge verlor sind nur zwei Gewaltepisoden, die verdeutlichen, dass es hier ein Thema gibt, mit dem die Auseinandersetzung lohnt. Ich will mich gar nicht dazu ausbreiten, wie viel an dieser Berichterstattung darüber richtig ist, es ist trotzdem nicht von der Hand zu weisen, dass es unter Ultràgruppen eine – teils ritualisierte – Gewalt gibt, die auch durchaus zum Selbstverständnis von Ultrà gehört bzw. von vielen so interpretiert wird. Zwischen Gruppen, die Gewalt ablehnen und solchen, die sich unter der Woche im Boxraum genau darauf vorbereiten, gibt es jede Art von Grautönen. Ich dachte, es wäre einmal an der Zeit, mich mit dem Thema „Gewalt“ zu beschäftigen. Vor dem Hintergrund Italiens, das ja von Ultràs weithin als „Mutterland der Bewegung“ wahrgenommen wird. Nun sind die gesellschaftlichen Verhältnisse Deutschlands – und also auch die Gewaltepisoden – wirklich nicht mit denen Italiens zu vergleichen, aber schon die Gewaltfokussiertheit von Giovanni Francesios „Tifare Contro“ macht – bei aller Kritik daran – deutlich, dass Gewalt seit jeher zum Codex der „Mentalità Ultrà“ dazugehört. Woher kommt sie? Sinnlose Gewalt hirnamputierter Rowdies?

Bis zur Ankunft am jeweiligen Auswärtsziel zu vergewaltigende Bahnhöfe und Raststätten. Kerben auf dem Rücken für Kilometer, trockene Kehlen, Gürtelhiebe, Kälte, Zigaretten, Alkohol, Pillen, Hasch, Marijuana, Kokslinien, um weiter zu können, bis zur nächsten Auswärtsfahrt. Kämpfe und Hinterhalte. Bis zur nächsten Auswärtsfahrt. Wie die Morlocks eröffnen sie die Kanalschächte der Unterwelt und wandeln unter den Normalen, erschrecken diese und behindern
den überflüssigen institutionellen und respektvollen Lauf der Regeln des sozialen Miteinanders.

(Domenico Mungo: „Streunende Köter„)

Italien ist auch ein schöner Ort, um zunächst darauf hinzuweisen, dass Gewalt bei Sportveranstaltungen weder von Hooligans noch von Ultràs erfunden wurde. Früher war keineswegs alles besser, nicht mal ganz früher und die Entfernung von Stehplatzfans wird vermutlich auch kein Phänomen beseitigen, dass es schon lange vor Stehplatzfans gab. So berichtet z.B. Tacitus in seinen „Annales“ (59 n.Chr. XIV,17) von gewalttätigen Auseinandersetzungen unter Fans am Rande von Gladiatorenkämpfen im alten Pompeji. Einwohner der lokalen Kolonie gerieten mit aus Nocera angereisten Anhängern aneinander. Zuerst nahm man sich auf die Schippe, dann griff man erst zu Steinen und dann schließlich zu den Schwertern. Zahlreiche Menschen sterben, als Verlierer gehen die in Unterzahl befindlichen Fans aus Nocera aus der Schlacht in die Geschichte ein. Der Senat erließ ein 10 Jahre dauerndes Verbot für die Einwohner Pompejis, Sportveranstaltungen beizuwohnen oder solche auszurichten. Eine Art stadtweites Stadionverbot also, auch hier nichts Neues (gleichwohl wird dieses Mittel auch nach 2.000 Jahren Wirkungslosigkeit selbstverständlich weiterhin als Allheilmittel gepriesen).

Eine erste Ursache für Gewalt findet sich aber schon bei Tacitus. Der in Italien besonders scharf wahrgenommene Lokalpatriotismus: Egal, ob in Amphitheatern oder in modernen Stadien, der von auswärts anreisende Fan wird als „Eindringling“ wahrgenommen und die Heimfans verleihen ihrer Ablehnung Ausdruck: symbolische Gewalt (in den Kurven gezeigte Särge und Kreuze, ausgestreckte Mittelfinger, Provokationen, Beleidigungen) und soweit möglich auch durchaus handfeste Gewalt. Wenn Fußball aus anthropologischer Sicht eine Art „simulierter Krieg“ ist, bei dem zwei Heere in die Schlacht ziehen, um das Feld des Gegners zu erobern, kann man das vielleicht noch positiv bewerten, weil ein sublimierter Krieg eben doch noch besser ist als ein richtiger. Aber auf den Rängen, die an kein weiteres offizielles Regelwerk gebunden sind, kann ein als ungerecht empfundener Elfmeterpfiff ausreichen, um vom simulierten Kampf ganz schnell zum Faustkampf überzugehen. Ich denke, dass auch die Gewalt in italienischen Fußballstadien, grundsätzlich erst einmal von territorialen Animositäten abstammt, dem italienischen „Campanilismo“ (Heimat ist, von wo ich noch meinen Kirchturm sehe), der auch schon einmal dazu führt, dass man sich mit Mailänder Dialekt besser nicht in bestimmten Quartieren Palermos oder Napolis blicken lässt. Aber auch die Abwesenheit von Gästefans heißt nicht automatisch friedfertige Verhältnisse, wie es die Apologeten des Auswärtsverbots gern glauben machen wollen: zu einiger Berühmtheit gelangte die Episode, als 1970 Fans von Torino Schiedsrichter Concetto Lo Bello bis zum Flughafen verfolgten, weil der in den letzten Spielminuten einen Elfmeter pfiff, durch den Vicenza den Sieg davon trug. In jenen Jahren waren Auswärtsbesuche eher unüblich, massive Kontingente von Gästefans waren noch kaum beobachten.

Aber auch lange vor der Geburt der ersten Ultràgruppen in der zweiten Hälfte der 60er Jahre gab es genügend Gewaltepisoden in italienischen Stadien. Bereits in der Saison 1924/25 wurde auf neutralem Platz in Turin das Entscheidungsspiel um die Meisterschaft zwischen Bologna und Genoa ausgetragen. Zwei Fans aus Genua trugen Schussverletzungen davon. Im fünften Versuch gewann Bologna seine erste Meisterschaft, während die Saison unter Genoa-Fans als die der „stella cippata“, des „geklauten Sterns“ in die Annalen einging. Es wäre der zehnte Scudetto für Genoa geworden, der einen Stern auf dem Trikot verspricht, dummerweise war der hohe faschistische Parteifunktionär Leandro Arpinati glühender Bologna Fan… Die faschistische Regierung, bemüht den Anschein von „Ordnung und Disziplin“ aufrechtzuerhalten, verschwieg zunächst die Gewaltepisoden rund um dieses Spiel weitgehend. Jedenfalls solange, bis irgendein Machthaber erkannte, dass sich solche Unruhen als Propagandainstrument und Mittel zur sozialen Kontrolle verwenden ließen. Und so begann die gleichgeschaltete Presse dann doch noch, die Teilnehmer an den gewalttätigen Auseinandersetzungen zu asozialen Rowdies zurechtzuschreiben, die mit der friedliebenden und arbeitsamen Mehrheitsgesellschaft nichts zu tun haben. Später, 1972, sollte Stanley Cohen in seinem Buch „Folk Devils und Moral Panic“ den Begriff für diese auch heute noch verbreitete Sitte prägen, gesellschaftliche Phänomene wie beispielsweise Subkulturen derart zu „beschreiben“, dass sich die „moralische Panik“ der Medienkonsumenten gegen scheinbar außerhalb der Gesellschaft stehende „folk devils“ richtet, auch wenn diese durchaus aus der Mitte der Gesellschaft stammen und in ihr selbst bestehende Konflikte aufzeichnen. Es ist den jeweils Mächtigen aber immer lieber, wenn sich die Entrüstung der Mehrheit gegen marginalisierte „Andere“ richtet (seien dies Hexen oder Ultràs), als gegen eigene Mißstände – immer unter dem Motto „mit der Gesellschaft an sich ist alles in Ordnung, wären da nicht diese Rowdies“. Der Nebeneffekt, dass abweichendes Verhalten nicht nur stigmatisiert, sondern auch angstbesetzt wird, wird dabei natürlich gern in Kauf genommen. Ein wenig muss man sich das wie den „schwarze Mann“ vorstellen, der immer dann herbeigerufen wird, wenn die Kinder mal wieder partout nicht einschlafen wollen. Sie schlafen dann vor Angst zwar immer noch nicht, aber wenigstens ist Ruhe im Kinderzimmer.

Zum x-ten mal entzündet sich anschließend eine Debatte um Ultras und Gewalt in den Stadien. Eine Debatte, die so heuchlerisch ist wie keine andere, denn die offensichtliche Wahrheit ist, dass in Italien niemals jemand irgendetwas davon gewusst hat, was sich in den Stadionkurven wirklich abspielt. Oder besser, niemand wollte jemals etwas davon wissen. Es hat die Fußballvereine einfach niemals interessiert. Außer natürlich, wenn es darum ging, diese hitzigsten aller Fans zur „Überzeugung“ (sprich: Bedrohung) von Spielern und unbequemen Journalisten einzuspannen.

(Giovanni Francescio: „Tifare Contro„)

Immerhin haben wir eine weitere Ursache für Gewaltepisoden auf den Rängen gelernt: das tatsächliche Spielgeschehen bzw. damit zusammenhängende Ereignisse: Auf- und Abstiege, vermeintliche und reale Benachteiligungen, dramatische Spielverläufe, rüde Fouls. In Italien kommt nun zu den schon immer bestehenden territorialen und sportlichen Konflikten, die vom Spielgeschehen befeuert werden, noch die außerhalb der Stadien zu beobachtende Gewalt unter Jugendkulturen hinzu. Giovanni Francesio bezieht sich auch hierauf in „Tifare Contro“, auch Domenico Mungo räumt diesem Aspekt in seinem Buch „Streunende Köter“ weiten Raum ein und nicht zuletzt berichtet auch Giorgio Specchia in seiner Biografie des Viking-Begründers Nino Ciccarelli, dem Generationenbuch „Il Teppista“, (ab November 2012 als „Der Rowdy“ auch auf deutsch) von den Konflikten der Mailänder Jugendkulturen der 70er bis 90er Jahre. In jenen Jahren standen sich in den italienischen Straßen Mods, Rocker, Punks, Skins und eine unendliche Zahl an Unterkulturen gegenüber. Durchaus gewaltsam. Ohne dass die damaligen Verhältnisse die Presse, die Schlipsträger der Parlamente oder die jeweiligen außerparlamentarischen politischen Strömungen gestört hatten, die ihre politischen Argumente während der „bleiernen Jahre“ gern einmal selbst mit Schußwaffen oder Bombenattentaten austrugen. Nicht zufällig eignete sich auch die aufstrebende Ultràbewegung zahlreiche Ausdrucksmittel des politischen Straßenkampfs an: Namen, Dresscodes, paramilitärische Organisation, Megaphone, Trommeln, Pyrotechnik, Gesänge und Sprechchöre, Banner…

Im Laufe der Evolution und Ausdifferenzierung der Ultràbewegung nahm die Gewalt zwar immer noch einen wichtigen Anteil am „Kräftemessen“ mit dem Gegner ein, aber natürlich bei weitem nicht den einzigen. Ultrà war niemals eine reine Hooligan-Veranstaltung und die Faszinationskraft, die der lauteste und bunteste Stadionbereich auf kleine Ragazzi ausübte, stammte natürlich nicht von der Gewalt, sondern vom bunten und relativ freien Treiben auf den Rängen, von den Gesängen und aus dem Gefühl, dort einen Platz gefunden zu haben, um gemeinsam mit Freunden seine Wochenenden zu verleben. Die auf den Rängen ausgetragene „Meisterschaft“ um die Vorherrschaft in der Ultràliga umfasste jedenfalls auch Kriterien wie die Phantasie bei der Ausgestaltung von Choreografien, Farbigkeit, Originalität und Lautstärke der Gesänge oder Zahl der Auswärtsfahrer. Und auch der symbolische „Krieg“ mit dem Ziel, den Gegner „auszulöschen“ (visuell oder akustisch), machte vor wenigen moralischen Hemmschwellen halt: die verbale Gewalt war außerordentlich, Respekt vor Toten oder dem politisch Korrekten nicht vorhanden. Die Toten vom Flugzeugabsturz in Superga wurden ebenso bespuckt wie die Opfer der Flutkatastrophe am Arno oder – später – die Opfer der Katastrophe im Brüsseler Heysel-Stadion. Weitgehend ausgeschlossen von der veröffentlichten Meinung wurden in den Stadien in den Farben des Gegners bemalte Pappsärge gezeigt oder mit drei Fingern die beliebte P38-Pistole nachgemacht.

Selbstverständlich entwickelte sich die physische Gewalt in einem solchen Szenario analog, anfangs allerdings ohne Tote. Was insofern eine Erwähnung wert scheint, als der Fußball seinerzeit die größten Menschenmengen bewegte, der körperliche Kampf weitgehend ohne Regeln ausgetragen wurde, zu Waffen wie Messer, Gürtel, Papierbomben oder Flaschen und Steinen gegriffen wurde. Überzahlangriffe, „Fallen stellen“ oder Angriffe auf Nicht-Ultràs gehörten leider immer schon zur Tagesordnung, auch wenn sich natürlich keine Gruppe mit so etwas brüstete. Im Stadion wie auf den Straßen. Als erster Stadiontoter gilt Giuseppe Plaitano aus Salerno, der während eines Entscheidungsspiels Salernitana-Potenza um den Aufstieg in die Serie B von einer Polizeikugel (!) getroffen wurde. Vom Triestiner Stefano Furlan über den Atalanta-Fan Celestino Colombi bis hin zum Laziale Gabriele Sandri 2007 fand sich in Italien immer wieder ein Polizist, dessen unorthodoxe Einsatzmethoden zum Tode eines Fans führten (wie auch sonst im Land, aber das führt jetzt zu weit). Selbstverständlich finden sich genügend Gründe für die Gewaltepisoden in italienischen Stadien innerhalb der Ultràbewegung, angesichts der journalistischen Aufarbeitung des Themas erscheint es mir trotzdem bedeutend, immer mal zu erwähnen, dass es diese „auch gibt“, nicht „nur“. Denn nicht nur zogen in der zweiten Hälfte der 60er Jahre die Protagonisten der politischen Straßenkämpfe mit ihren Ausdrucksformen in die Stadien, die Polizei tat es ihnen gleich: Einerseits, um ihrer zahlenmäßigen Ausstattung nach dem Ende der großen politischen Konflikte eine neue Daseinsberechtigung zu verleihen, andererseits auch, um das Stadion als Labor für Repressionstaktiken für Massenphänomene zu entwickeln, die auch bei Gewerkschaftsdemos, Streiks oder nicht zuletzt dem G8-Gipfel in Genua 2001 Einsatz fanden: spezielle Schlagstöcke, Taktiken, Tränen- und CS-Reizgase, Schilde, Körperschutz. Einen sehr erhellenden Einblick in die Einbeziehung „stadionerprobter“ Einheiten und Maßnahmen beim G8 gibt u.a. das Buch „ACAB“ vom Journalisten der Gazzetta Carlo Bonini (2012 auch verfilmt, leider nur auf italienisch). In jedem Fall sorgte der Einzug des „Blauen Blocks“ (die kasernierten Einsatzgruppen der „Celere“ tragen blaue Helme) als Konfliktpartei im Nachhinein betrachtet dafür, dass die ehemals eher ritualisierte Gewalt der Stadien immer eher in echte Gewalt umschlug. Gegen einen Gegner, der zwischen einem selbst und der feindlichen Gruppe stand, immer mehr aber auch bereits als gemeinsamer „Feind Nummer 1“ wahrgenommen.

Einzug in die Berichterstattung fand Stadiongewalt dann 1995, als der Genoa-Fan Vincenzo Spagnolo vom Milanista Simone Barbaglia erstochen wurde. Das Jahr wird weitgehend als Ursprung der Stadiongewalt angesehen, auch wenn es vorher mit Antonio De Falchi, Nazzareno Filippini oder Marco Fonghessi bereits weitere Stadiontote gab. Allerdings war Spagnolos Tod der erste, der sozusagen „live“ übertragen und so von der Öffentlichkeit erstmals massenhaft wahrgenommen wurde. Kein Zufall, dass mit „Telepiù“ (heute TELE+) in eben diesen Jahren der erste PayTV-Dienst auf Sendung ging. Erstmals setzten sich aber nach Spagnolos Tod italienische Ultràs zusammen und unternahmen nach seinem Begräbnis mit dem von mehreren Gruppen unterschriebenen Manifest „Basta Lame, Basta Infami“, „Schluss mit Klingen, Schluss mit Verrätern“, zumindest einen Versuch, den bislang wenigstens stillschweigend tolerierten Einsatz von Waffen zu ächten. Leider hat das ehrenwerte Ziel, dem Konflikt Regeln zu geben und die vielbeschworene „Mentalità“ mit Inhalt zu füllen, nicht lange überlebt, der versuchte Ehrenkodex hatte einen schwierigen Weg von der Theorie in die Praxis und viele Gruppen lehnten ihn sowieso von vornherein ab. Der Einsatz von Messern ist in bestimmten Großstadtrevieren weiterhin an der Tagesordnung und verschiedene Gruppen sahen überhaupt nicht ein, wieso sie ausgerechnet im Stadion darauf verzichten wollten. Andere wandten sich explizit gegen die vermeintliche Doppelmoral, nach der Gruppen, die zwar keine Messer einsetzten, aber dafür in Überzahl angriffen, Hinterhalte vorbereiteten, Steine und Flaschen warfen, Gürtel kreisen ließen oder Molotov-Cocktails auf Züge schmissen, nicht weniger tödlich sein könnten, als Messer.

Am Dall’Ara-Stadion angekommen lockert sich die Aufsicht seitens der Ordnungskräfte ein bisschen. Ein Grüppchen von circa zwanzig Jungs schafft es, in der Menge unterzutauchen, um hundert Meter weiter, auf neutralem Gebiet, wieder herauszukommen. Da gibt es eine Bar und die zwanzig kommen mit ebenso vielen Bierkrügen wieder heraus. Nur ein Wimpernschlag und aus einer kleinen Gasse springen die Bologna-Ultràs hervor. Sie sind viele und sie suchen nach Nino, dem Jungen, von dem in Zeitungen, Radio und Fernsehen die Rede ist. Fast als ob sie neidisch wären. Der ganz vorn stehende fordert ihn heraus.

– Los Nino, schaun wir mal, was du drauf hast.

(Giorgio Specchia: „Der Rowdy„)

Zumindest wurde die spontane Auseinandersetzung unter Ultràs nach 1995 deutlich schwieriger und damit seltener. Kameraüberwachte, militarisierte Stadien, massive Polizeipräsenz und Auswärtsverbote sorgten für immer weniger Kämpfe, an denen immer weniger Personen teilnahmen. Wenn nichts anderes, orientierte man sich an den nördlicheren Vorbildern und machte Absprachen für Boxereien unter gleichstarken Gruppen weit entfernt der Stadien ab. Hier erstaunlicherweise wieder nach einem gewissen Ehrenkodex: mit nackten Händen, wer am Boden liegt, ist aus dem Spiel, Sieger ist, wer stehen bleibt. Daneben gibt es – besonders in den unteren Ligen – auch heute noch die klassische, spontane Auseinandersetzung. Angesichts der drastischen Strafen, der Überwachungstechnik, der „Tessera del Tifoso“, der zitierten flächendeckenden Auswärtsverbote, generellem Besucherrückgang und der hochgerüsteten Polizeitruppen immer weniger. Oder die Gewalt richtet sich gegen Autobahnraststätten oder die Beamten vor Ort.

Insgesamt bleibt festzuhalten, dass Ultrà-Gewalt in Italien verschiedene Ursachen hat (ja, sie hat Ursachen und ist nicht „grundlos“) und über die Jahre verschiedene Ausdrucksformen durchlaufen hat. Sie kann historische Wurzeln haben, wie die Rivalität zwischen dem Siena der Waiblinger und dem Florenz der Welfen. Sie kann soziale/ökonomische Konflikte abbilden, wie zwischen Verona und Neapel (oder Nord und Süd generell). Sie kann anthropologische Ursachen haben, wenn verschiedene Gelehrte darauf hinweisen, dass ein gewisses Aggressionspotential womöglich biologistisch begründet werden kann. Sie kann politisch motiviert sein, wie zwischen den Linken aus Livorno und den Rechten von Lazio. Sie kann Ursachen in der fußballerischen Geschichte haben, dramatische Entscheidungsspiele wie die weiter oben zitierten etwa, oder ihre Gründe in ultrà-internen Begebenheiten wie zerbrochenen Fanfreundschaften oder getöteten Gruppenmitgliedern haben (die Rivalität zwischen Milanisti und Genoani ist hier ein Beispiel für beides, Milan-Fans waren erst 15 Jahre nach dem Tod von Vincenzo Spagnolo wieder in Genua zugelassen – nicht ohne die fälligen Ausschreitungen).

Kurzum, man kann über Ultràgewalt in Italien schreiben, was man mag. Nur nicht, dass sie „keine Ursachen“ hätte. Sie war lange Zeit ein nicht weiter beachteter Bestandteil des Stadionlebens, je nach Herkunft ein mehr oder weniger bedeutsamer Bestandteil der Stadionwelt – gleichberechtigt neben Gesängen, Choreos, Pyrotechnik, Auswärtsfahrten oder den besonders in den 80ern beliebten Nebelkerzen und Rauchtöpfen, den identifizierenden Bannern, Farben und Fahnen. Wie so oft bei Repressionsmaßnahmen, findet Gewalt natürlich weiterhin statt. Nur vielleicht nicht mehr live, im Stadion, dessen Spektakel vor weitgehend leeren Rängen mittlerweile relativ ungestört ablaufen kann. Mehr noch: sie ist nach dem Verbot von Trommeln, Megaphonen, spontanen Spruchbändern, Choreografien und dem Einsatz von Pyrotechnik mittlerweile die einzige Möglichkeit geblieben, sich mit dem „Gegner“ zu messen.

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