„Der Rausschmeißer“ heißt das neue Buch von Giorgio Specchia, Fußballjournalist aus Mailand und Mitgründer der Viking Inter, der deutschen Fans von seinem Buch „Der Rowdy/Il Teppista“ und aus der Italien Groundhopping-Doku auf ZDF info bekannt sein dürfte. Selbstverständlich konnte ich den Moment nicht erwarten, endlich sein neues Buch in den Händen zu halten und habe den „Nachfolger“ vom Rowdy dann auch in wenigen Stunden verschlungen. Wobei ich, um Überraschungen zu vermeiden, gleich anmerken will, dass es diesmal um keinen Helden der Ultrà kurve geht und Fußballfans nur ganz selten vorkommen. Erzählt werden in dem faszinierenden Büchlein Episoden aus dem Mailänder Nachtleben der 80er und 90er Jahre, insofern ist es also tatsächlich ein würdiger Nachfolger der Lebensgeschichte von Nino Ciccarelli.
Er fängt immer von hinten an: Fußball gefällt ihm nicht mehr. Oder besser, er hat gelernt, Fußballer und Artikel über sie widerlich zu finden: jeden Morgen eine neue Schlampe im Rampenlicht, die in ihrem Lebenslauf normalerweise nur aufzuweisen hat, dass sie irgendeine Geschichte mit einem Stürmer hat. Auf den Fußballseiten spricht man nur noch über illegale Wetten, Tattoos, Ohrringe, Villen, Nutten, Metrosexuelle, Koksorgien, nächtliche Saufgelage, Wags. Jedenfalls über nichts, was etwas mit Sport zu tun hätte. Resultat: Erik beginnt die Lektüre auf Seite 40 und beendet sie ungefähr auf Seite 20.
Erik heißt der Protagonist des mit „Echte Mailänder Nächte“ untertitelten Romans. Also eigentlich heißt der Mann Enrico, aber Erik klingt mehr nach Vikinger und der Muskelprotz mit den langen blonden Haaren verdingt sich als Rausschmeißer im Nachtleben der lombardischen Metropole. Schon auf Seite 10 verkündet Specchia das Leitmotiv des Werks: „Das ist das Geheimnis von Erik und dem Geschichtenerzähler: Respekt für alle, Angst vor niemandem“. Und Specchia wäre nicht Specchia, wenn er den Leser nicht wieder in eine Welt entführen würde, deren Türen den meisten verschlossen geblieben sind. Was die Türsteher da bewachen, ist ein Sumpf aus Drogen, Prostitution, Ausbeutung und dem Traum vom schnellen Geld, den der Autor im „Teppista“ nur angerissen hatte. Und diesmal geht es mitten hinein ins Nachtleben.
Vor den einst hippen Lokalen am Mailänder „Idroscalo“, dem künstlichen See in der Nähe des Flughafens Linate, bildeten sich lange Schlangen aus Vergnügungssüchtigen, während die Muskelberge der Security dafür sorgten, dass die Prominenz aus Fußballern, Schauspielern und Moderationssternchen sich drinnen ungestört vom Pöbel Linien durch die Nase ziehen konnte. So lang, dass auch schonmal ein schneller Blowjob hinter der Hecke den Türsteher milde stimmen musste. Überhaupt erfreut sich diese Form oraler Befriedigung als Bezahlmittel einiger Beliebtheit; so wird eine bekannte Schauspielerin von Erik dabei erwischt, wie sie bei zwei arabischen Dealern ein Gratistütchen verdienen wollte. Vom Spaghat zwischen der Partywelt der Feiersüchtigen und der Gosse dahinter erholt sich Erik bei seinen Katzen und Literatur, der Frieden der heilen Welt als Wall gegen die Entzauberungen der Medienwirklichkeit. Katzen. Bücher oder die mit Hingabe gepflegte weiße Rose, die er vor der Planierraupe eines neureichen Russen gerettet hatte. Die Rose geht wundersamerweise niemals ein, die Katzen werden uralt und die Bücher füllen langsam sein Appartement. Die Wegbegleiter hingegen sterben alle früher oder später.
Erik bezahlt mit dem Geld die erste Auswärtsfahrt seines Lebens: Austrai Wien-Inter. Mit dem „Lamierone“, normalerweise der letzten Fahrt für einen Reisebus, der zum Abwracken bestimmt ist. Diese Busse werden so genutzt, für die Auswärtsfahrten der Ultrà s. Im Prater, dem Stadtpark, wird die Nord von einheimischen Punks mit Pfefferspray, Messern und Stahlstangen angegriffen. Es wurde eine Nacht ehrlicher Schlägereien, ohne Polizei. Beim Rückspiel im San Siro wurden die Österreicher aus Rache plattgemacht. Alte Erinnerungen. Jetzt muss man an das tägliche Brot denken.
Sex, Drogen, Alkohol. Während das zeitweilig reich gewordene Mailand seinen Hedonismus mit hunderte Euro teuren Champagnerflaschen zelebrierte, blickt Specchia mit Erik auch hinter die Abgründe der glitzernden Fassade: In die versifften Mietskasernen, die irgendwelche Fliesenleger für mehrere Monatslöhne an brasilianische Transvestiten vermieten, die dann irgendwann in einem namenlosen Grab auf einem Friedhof weggeworfen werden. In die Privès, wo hofierte Fußballstars ihre Millionen in teuren Schnee und billige Frauen oder Männer investieren. Auf die „besten Plätze“, auf denen internationale Kinostars die Huldigungen der weiblichen Fans zur Kenntnis nehmen und derweil den Türsteher mit eindeutigen SMS bombardieren. Und wie überall sonst übersetzt sich die rauschende Party aus Sex, Drogen und Alkohol für die, die nüchtern bleiben und für Ordnung sorgen müssen auch hier in Blut, Sperma und Kotze.
Das liest sich nicht schön, es liest sich atemberaubend und faszinierend. Vor allem, weil Erik anhand seines Berufslebens ganz nebenbei auch einen sehr präzisen Eindruck vom Aufstieg und Verfall einer ganzen Nation entwirft. Wenn nämlich nach der Einführung des Euros die Schlangen und die Geldbündel verschwinden, die Prostitution sich von Privès in irgendwelche Kaschemmen und hinter irgendwelche Sträucher verzieht. Wenn das Nachtleben an albanische Straßengangs überantwortet wird und der einst heißgeliebte Pferderennsport nur noch von ein paar alten Männern auf den baufälligen Tribünen des Hippodroms verfolgt wird. Vom Fußball nicht zu reden. Aber Erik ist „Buttafuori“, das ist sein Platz in der Welt. Zwischenzeitlich versucht er sein Glück in Florida oder als Taxifahrer, aber am Ende steht er immer wieder dort: die Reichen vor dem Pöbel zu beschützen, der sie reich gemacht hat.
Specchia erzählt mit dem unbestechlichen Realismus eines John Steinbeck von den Gescheiterten, Gestrandeten und Weggeworfenen der Glitzerwelt, ohne dessen Hoffnung auf eine soziale Revolution zu teilen. Er nutzt die klare, aufs Äußerte reduzierte Sprache und die starken Bilder eines Ernest Hemingway, um den Auffälligen des Mailänder Nachtlebens ihre Würde wiederzugeben. Und auf Werte wie Solidarität und Ehrlichkeit zu pochen, mit denen sich die Gestrandeten inmitten von Nadeln, Scherben von leeren Bierflaschen und benutzten Kondomen irgendwie über Wasser halten. Nein, um Fußball geht es diesmal nicht. Aber ganz nebenbei wird klar, wieso die Jugendlichen aus den armen Vorstadtquartieren den modernen Fußball und dessen zugekokste Protagonisten verachten, die ihr Geld mit halbverhungerten Transvestiten durchbringen. Ein Buch, wie ein Verkehrsunfall: voller Einblicke, die man nie haben wollte und trotzdem viel zu kurz.
Das Loch war schon ausgehoben, Fläche 3, Platz 261. Erik, während er in Richtung Ausgang geht, kommt am Platz 216 vorbei, da wo Verusca begraben liegen sollte. Er entdeckt aber, dass dort Dejan liegt, ein Junge aus dem Kosovo, der mit 20 Jahren gestorben ist. Sogar ein Foto von ihm gibt es: mit pechschwarzem Topfschnitt. Die Transe hatten sie sogar als Tote noch einfach weggeschmissen.
2 Antworten auf „Giorgio Specchia: Der Rausschmeißer / Il Buttafuori“
Nachdem die obligate Frage noch niemand gestellt hat: Wie sieht es mit einer Übersetzung aus? Haben wir darauf eine Chance?
Wenn sich ein Verlag fände, bin ich gern dabei.