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Fussball

Ein Toter, kein Populismus

Am Abend des 26. Dezember spielte Inter gegen Napoli. Tabellenzweiter gegen den Dritten, Nord gegen Süd, ein spannendes Duell, das die Ligaverantwortlichen auf den Abend des zweiten Weihnachtsfeiertags gelegt haben. Ungefähr 120 Ultras von Inter, unterstützt von Freunden aus Varese und Nizza, hatten sich möglichst unauffällig in die Via Novara begeben. Hier kommt man lang, wenn man mit dem Auto über die „Tangenziale Ovest“ des Mailänder Stadtrings zum San Siro fährt. Beispielsweise von Napoli aus. Viele Freiflächen, Parkplätze, eine Tankstelle, zwei Imbissbuden und ein paar Verkaufsstände für Schals und Sitzkissen. Von hier aus sieht man das eindrucksvolle Dach des Mailänder Fußballtempels in knapp zwei Kilometern Entfernung. Ich stelle mein Auto immer hier ab, weil es nur zehn Minuten Fußweg sind und man nach dem Spiel schnell wieder auf der Autobahn ist. Hier, in der Piazza St.Elena, erwartet man die Gästefans. Polizei ist keine anwesend.

Als die ersten Autos und Minibusse – auch sie ohne Polizeibegleitung – aus Napoli in Richtung Stadion vorbeikommen beginnt, was der Mailänder Polizeipräsident später in einer Pressekonferenz als „militärisch geplante Aktion“ bezeichnen sollte.

Drei Minuten dauert die Aktion, am Ende bleibt Daniele Belardelli liegen, Ultrà und eine der Führungsfiguren von „Blood & Honour Varese“, langsam überrollt von – mindestens – einem „dunklen Van“. Er ist bei Bewusstsein, als ihn Marco Piovella, der Verantwortliche für die Choreografien bei Inter, in ein Auto lädt, das ins Krankenhaus rast. Dort stirbt Belardelli, genannt „Dede“, trotz sofortiger Notoperation an seinen schweren inneren Verletzungen. Inzwischen wurden die beiden Vans in Napoli gefunden und die Fahrer ausfindig gemacht. Piovella, in der Kurve besser bekannt als „Il Rosso“, wird festgenommen, nachdem ein Ultrà der Boys, Luca da Ros, ihn gegenüber der Polizei als Organisator der Auseinandersetzungen benannt hatte. Nun funktionieren Kurven nicht so, dass einer befiehlt und alle folgen müssen, aber Piovella ist zumindest Mitglied der Führungsriege der Curva Nord und zumindest repräsentativ fürs Ganze. Wir hatten Marco seinerzeit in der Italien-Doku bei den Choreo-Vorbereitungen im Bild.

Zunächst ist alles so wie sonst: Zeitungen und Nachrichtensendungen sezieren Piovellas Lebensgeschichte, der seit seinem Universitätsabschluss extrem erfolgreich ein Unternehmen für Lichtarchitektur betreibt, sein Foto in Anzug und Krawatte kennt bald jeder Italiener. Mailands Polizeichef Marcello Cardona fordert eine Schließung der Kurve von Inter bis zum 31. März und ein Verbot von Auswärtsfahrten für den Rest der Saison. Nichts geäußert hat er zu dem Umstand, wie der Mailänder Polizei die Ansammlung von 120 Ultras im erweiterten Stadionbereich genauso entgehen konnte, wie die Anreise der Curva A aus Napoli. Unterstaatssekretär Giancarlo Giorgetti fordert, Risikospiele nur noch mittags auszutragen und ganz generell werden „härtere Strafen“ gefordert. So weit, so reflexhaft.

Doch dann nimmt die ganze Geschichte eine unerwartete Wendung, die nicht mit der Situation nach dem Tod Gabriele Sandris, Ciro Espositos oder Filippo Racitis vergleichbar ist. „Ein Stadion ohne Farben und Gesänge ist kein Stadion“ spricht sich Innenminister Matteo Salvini gegen die Sperrung vion Stadien oder Sektoren aus. In einer Konferenz mit Georgetti und dem italienischen Polizeichef Franco Gabriellico unterstreicht er einige Tage nach den Vorfällen noch einmal, dass Banner, Trommeln, Megafone und Fahnen nichts mit Gewalt zu tun hätten und den organisierten Fans diese Fanutensilien nicht verwehrt werden dürften. Megafone und Trommeln waren nach zehn Jahren gerade erst wieder erlaubt worden. Gleiches gilt für Choreografien, die bislang bei der Polizei angemeldet werden müssen. Hier wünscht sich Salvini mehr Freiheit für die Fans, so lange die Kurven ihrer Verantwortung gerecht werden.

Leute, erzählen wir keinen Quatsch, eine Sache sind Messer, Stöcke und Papierbomben; eine altre Sache sind die Fahnen, Schals, Megafone, Trommeln und Zaunfahnen. Das Stadion muss bunt und farbenfroh sein.

Natürlich spricht der Innenminister auch davon, dass es für Gewalttaten in und ums Stadion sichere Strafen geben sollte und diese vor allem schneller ausgesprochen werden müssten, um wirksam zu sein. Er spricht aber auch von der Bedeutung des Fanbeauftragten in seiner Rolle als Mittler zwischen den organisierten Fans und den Institutionen und der notwendigen Eigenverantwortung der Kurven, die gestärkt werden müsse. Des weiteren wünscht er sich die Wiedereinführung der seit Jahrzehnten verbotenen Sonderzüge zu Auswärtsfahrten. Die Kurven müssten ihrer gesellschaftlichen Verantwortung besser gerecht werden, aber die Probleme wären nicht auf die Kurven begrenzt, denn die „schlechte Ezriehung“ fände sich auch in allen anderen Sektoren.

Zum guten Schluss warnt er vor Hysterie und unterstreicht, dass der Fußball 12 Millionen Menschen in Bewegung setzt, unter diesen aber höchstens 6.000 Gewaltbereite befänden und man nicht alle über einen Kamm scheren darf. Ein Satz aus dem Handbuch des Populismuskritikers.

Man kann 2018 nicht für ein Fußballspiel sterben, aber die Zahlen belegen, dass der Fußball immer gesünder wird. Die Zahl der verletzten Fans ist um 60% gesunken, die der Polizisten um 50%, während Stewards überhaupt nicht mehr verletzt wurden. Auch die Zahlen der Stadionverbotler und Inhaftierten ist gesunken. Heute haben wir ungefähr 6.500 Stadionverbotler. Wir reden von einem Phänomen, das 12 Millionen Menschen und 6.000 Rowdies bewegt. Fußball ist nicht Verbrechen, sondern Leidenschaft, Sport und Support.

Er selbst würde seit seinem 15. Lebensjahr Kurven frequentieren und somit wisse er zumindest, worüber er redet. Bilder von seinem Besuch beim Fest der Curva Sud von Milan am 16.12. waren durch die sozialen Medien getrieben worden. Man kann das alles bewerten, wie man mag, Populismus sind diese Aussagen aber nicht.

Es kommt dann aber noch bizzarrer, als Gianluigi Buffon in der Vanity Fair zum Thema Ultras befragt wird:

Ich wal ein Ultrà, vom Commando Ultrà Indian Tips, Name einer Gruppe von Fans, die Carrarese folgten, das habe ich noch heute auf meine Handschuhe gedruckt. Ich habe Leute getroffen, über die viel geredet wird, ohne etwas über sie zu wissen. Normale Jungs und Mädchen, Träumer, Idealisten. Einige interessante Personen und ein paar Idioten… Als Jugendlicher hatte ich dieses Gefühl von Allmacht und Unbesiegbarkeit. Ich hielt mich für unzerstörbar, dachte ich könnte übertreiben, machen was ich wollte. Ich möchte die gesunde Verrücktheit meiner 20 Jahre nicht missen. Ich habe meine Scheiße gebaut und irgendwie bin ich zufrieden, dass ich nichts davon vergessen habe.

Man möge sich die Augen reiben, aber Gigi Nazionale geht noch weiter und berichtet von den Schlagstöcken der Polizei, die er sich eingefangen hat.

Das ist eine Geschichte, die sich vor 20 Jahren zugetragen hat. Nach einem Spiel nahm ich einen Fan von Parma im Auto mit. An der Mautstelle war eine Polizeisperre. Als er die Blaulichter sah, verschwand er. Ich stand allein gegen sie da.

Und auch weitere Aspekte der jugendlichen Subkultur empören ihn kaum:

Ich habe Drogen und Doping immer vermieden, höchstens mal einen Joint. Aber ich erinnere mich an die Rauchwolke, die die Fans der Casertana einhüllt, ein Nebel der nichts mit den Rauchtöpfen zu tun hat, sondern von den 200 Tüten stammt, die da gleichzeitig geraucht werden: als ob ich es vor mir sehe.

Und gibt dann auch die allgemeingültige Antwort auf die Frage zum toten Ultrà in Mailand:

Es ist schwierig, das was in Mailand passiert ist, in den richtigen Kontext zu setzen. Der Hass ist ein obszöner Wind, egal wo er weht, nicht nur in einem Stadion, weil ich den starken Verdacht habe, dass Fußball in all dem nur als Vorwand wirkt.

Ich weiß nicht, was die derzeitige Unaufgeregtheit zum Thema ausgelöst hat, aber zumindest der Reflex, nach härteren Strafen zu rufen, scheint diesmal auszufallen. Selbstverständlich darf niemand bei einem Fußballspiel sterben, für die genaue Aufklärung der Dynamik sind die Ermittlungsbehörden zuständig. Mehrere Personen wurden festgesetzt, gegen direkt und indirekt Beteiligte wird ermittelt. Neu ist, dass sich ein italienischer Innenminister mit Statistiken zu Stadiongewalt auseinandersetzt und nicht Pyrotechnik mit Gewalt in einen Topf wirft. Die Anekdoten von Gianluigi Buffon passen hier allerbestens in eine Diskussion, die Problematiken nicht ausblendet, aber in einen Kontext setzt und auch die positiven Aspekte unterstreicht. Das ist ein guter Ansatz, auch wenn zu den Ereignissen in Mailand noch zu viele Fragen offen sind, um sich eine klare Meinung zu bilden. Die Fakten werden ermittelt, danach weiß man mehr. So viel Geduld sollte man haben und scheinbar hat man sie. Ich bin erstaunt.