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Ein Sieg der Ultras?

Nach den traurigen Begleitumständen des Mailänder Derbys, das ohne Choreografien und Support ausgetragen wurde, durfte ich nun die schwer nachvollziehbaren Entscheidungen der Liga rund um das „Derby della Lanterna“ in Genua verfolgen. Ursprünglich war der Anstoßtermin auf Sonntag 12.30 Uhr festgelegt – nach einem Fanprotest, bei denen beide Kurven ankündigten, dem Stadion fernzubleiben, wurde drei Tage vorher entschieden, das Spiel auf Montagabend 20.45 Uhr zu verlegen. Die Ultràs von Sampdoria und Genoa waren für das Derby Sonntag 15 Uhr und nach der veritablen Rückwärtsrolle der Verantwortlichen jagen nun die Polemiken durch die sozialen Netzwerke und Blogs. Italiens wohl bekanntester Fußballjournalist Fabio Caressa nahm auf Sky Sport die Position seines Arbeitgebers ein – „wir zahlen viel Geld, wenn ihr guten Fußball wollt, dann nehmt hin, dass wir bestimmen, wann gespielt wird“ – und verkündete sogleich einen „Sieg der Ultràs“. Viele der Ultràs sehen das überhaupt nicht so, sondern sehen nur bestätigt, dass Fanpolitik in Italien zunächst einmal Politik gegen Fans im Stadion ist und auch ohne Dialog mit diesen durchgeführt wird. Andere Fans attackieren die Ultràs, weil ihnen ein Anstoß Sonntags zum Mittagessen immer noch lieber gewesen wäre als Montag nacht. Nach einem wunderbaren „Offenen Brief an Fabio Caressa„, der sehr deutlich machte, was die Doriani vom angeblichen „Sieg der Ultràs“ halten, dachte ich, ich möchte mir da gern eine Meinung einholen. Und ich stellte Andrea ein paar Fragen, dem Verantwortlichen der Faninitiative „Samdoria den Sampdoriani“ und langjährigem Stadiongänger. Hören wir uns an, was er zu den Begleiterscheinungen des wichtigsten Spiels des Jahres sagt:

Könntest Du Dich den lesern kurz vorstellen?

Ciao, ich bin Andrea, ein Sampdoria-Fan. Ich betreibe u.a. die Seite „La Sampdoria ai Sampdoriani“ und ich bin verrückt nach Fußball und Sampdoria. Ich will sofort klarstellen, dass ich in meinem eigenen Namen spreche und nicht für irgendeine Gruppe. Ich mache das so deutlich, weil es in letzter Zeit zu viele Mißverständnisse gab und ich persönlich habe das Stadion und meine Passion schon immer sehr heißblütig gelebt, aber lieber mit meinem eigenen Kopf, ohne mich irgendeiner Gruppe anzuschließen. Damit will ich jetzt aber nicht sagen, dass ich die Ansichten der organisierten Gruppen nicht teile; im Gegenteil, sie sind das Herzblut des Fußballs. In einem Fußball, der schon fast am Boden liegt, sind sie noch die einzigen, die die Stadien am Leben erhalten. Die sich den Hintern aufreißen, um Auswärtsfahrten zu organisieren, die Choreos, die Stadiongesänge…die jedenfalls die Zügel noch in der Hand halten. Im Guten wie im Schlechten, man muss sie so akzeptieren, wie sie sind, sie kriegen sowieso genug Scheiße in die Fresse (ich weiß nicht ob man das so sagen darf).

Der zerstückelte Spieltag, um den Bedürfnissen der Pay TV-Sender zu entsprechen ist mittlerweile eine Tatsache für Stadiongänger. Als die Liga beschlossen hat, das Derby um 12.30 Uhr anzusetzen, haben die organisierten Fans protestiert. Kannst Du mir sagen, wie man diese Entscheidung begründet hat?

Wie du auf meiner Seite ja schon gelesen hast, war ich von Anfang an gegen ein Derby um 12.30 Uhr, genauso wie ich natürlich auch gegen die zerstückelten Spieltage bin, an die sie uns mittlerweile gewöhnt haben. Für das Derby im Besonderen glaube ich, dass ein so früher Anstoßpunkt für viele Fans ein Problem dargestellt hätte. Warum kann man das nicht ganz einfach um 15 Uhr austragen? Ich kann mir das nicht erklären.

Ich habe beobachtet, dass beide Kurven auf die Barrikaden gegangen sind und unabhängig voneinander sowohl Doriani wie auch Genoani offiziell erklärt haben, vor dem Stadion bleiben zu wollen. Wie sind sie zu dieser Entscheidung gelangt? Gab es Kontakte zwischen den Fanlagern? Wie wurde es begründet?

Noch bevor die verschiedenen Ultràgruppen ihren Protest mobilisiert hatten, war meine Idee schon, dass man irgendeine Initiative gegen ein Derby um 12.30 Uhr auf die Beine stellen sollte. Danach sind von beiden Seiten die offiziellen Komuniqués erschienen. Es schien am Anfang so, als ob es eine gemeinsame Front gegen die wenig durchdachte Anstoßzeit geben könnte, aber am Ende hat sich diese Einigkeit der Fans schnell aufgelöst und die Lega hat dem Ganzen eins draufgesetzt und das Spiel mal eben auf den Montag um 20.45 Uhr verschoben. In Wirklichkeit hat sich nichts geändert, im Gegenteil, es wurde eine noch schlechtere Lösung gefunden. Kontakte zwischen den beiden Tifoserien gab es keine; bei uns in Genua ist das Derby eine heilige Angelegenhiet und dauert 365 Tage im Jahr. Es darf keine Kontakte mit dem Gegner geben. Aber für unsere Mentalität, egal wie weit wir voneinander entfernt sind, war völlig klar, dass die Idee eines Derbys um 12.30 Uhr einfach kompletter Irrsinn ist.

Wie wurde die Entscheidung in der Stadt aufgenommen? Waren die Tribünenfans derselben Meinung? Oder die Sky-Konsumenten?

Sagen wir, dass wir das Derby in der Stadt schon ordentlich leben, in Erwartung des Spiels auf dem Rasen verarschen wir uns gegenseitig genug. Die Erwartung und die Vorbereitung des Derbys hat aber auf jeden Fall einen anderen Geschmack als vor irgendeinem anderen Spiel. Leider wurde das alles dieses Jahr von den Protesten und dem Warten darauf, wann den nun eigentlich gespielt wird, überlagert. Dazu kam noch, dass je näher das Spiel rückte, die Unzufriedenheit wuchs – auch zwischen den Fans. Wir sind an einem Punkt angekommen, dass die Leute, die die Proteste unterstützt haben, jetzt böse angesehen werden und es wäre ja überhaupt viel besser gewesen, die Klappe zu halten und Mittags zu spielen, weil der Fußball jetzt halt eben so ist und man sich ja auch mal dran gewöhnen könnte. Kompletter Irrsinn eben.

Auf sehr italienische Weise haben die „Sicherheitsverantwortlichen“ das Derby nun auf Montagabend verlegt und die Entscheidung mit der Ausrichtung eines Markts im selben Stadtviertel begründet. Ein bisschen so wie in Mailand, als man die Curva Nord eilig doch wieder zum Spiel zuließ. Würdest Du von einem Sieg der Kurven sprechen?

Guck mal, die „Fiera di St. Agata“ gab es schon immer am Sonntag und es gab noch niemals irgendwelche Probleme, weil es gleichzeitig auch ein Spiel gab. Es ist richtig, dass der Markt noch nie auf ein Derby fiel, aber wenn sie den Anstoß um 15 Uhr gemacht hätten, wäre es zu keinerlei Schwierigkeiten gekommen. Ich würde wirklich nicht von einem Sieg der Kurven sprechen, eher im Gegenteil. Die Lega hat das Spiel verlegt und dabei als Grund vorgeschoben, dass der Markt da gleichzeitig stattfindet, ein unglaublicher Blödsinn. Ohne den Markt als Ausrede hätte die Lega nie im Leben den Anpfiff verlegt, schon um keinen Präzedenzfall zu schaffen. Und am Ende des Tages haben sie das Spiel auf einen schlimmeren Zeitpunkt verlegt: viele Fans werden nicht teilnehmen können, weil Montag ein Arbeitstag ist. Wer freut sich also über ein Derby am Montagabend? Allein die Fernsehsender.

Es scheint, als ob die Rolle der Stadionfans noch nie son gering war wie heute: die Einnahmen aus dem Ticketverkauf liegen bei nur ca. 15 % der Gesamteinnahmen und der Gesetzgebung scheint Schritt für Schritt zu gelingen, immer mehr Zuschauer aus den Stadien zu vertreiben. In Deutschland hingegen leben die Pay TVs und verkaufen ein spektakuläres Produkt in einem ansprechenden Rahmen. Was meinst Du, wie man die Menschen wieder in die Stadien bekommt?

Ich spreche auf meiner Seite oft davon: man muss das deutsche Modell studieren. Nicht England, nicht Spanien, sondern Deutschland. Man weiß, dass es bei euch Mitgliederbeteiligungen gibt, die den Fan in den Mittelpunkt des Projekts Fußball stellen und ihn persönlich mit einbeziehen. Oder die günstigen Eintrittspreise und die modernen Stadien. Zum Schluß sind die Stadien bei euch immer voll und bei uns immer leerer. Meine Facebook-Seite ist genau als Provokation zu verstehen, die Idee der Mitgliederbeteiligung „azionariato popolare“ auch hier in Genua zu verbreiten. Ich kenne die Mentalität des Supports hier bei Doria und weiß, dass das hier undenkbar durchzusetzen ist. Wenn du aber drüber nachdenkst, eine wunderschöne Idee, leider undurchführbar. Aber ein bisschen weniger Bürokratie würde ja schon reichen, um dem sterbenden Fußball wieder auf die Beine zu helfen. Es scheint, als wären der Fan und seine Leidenschaft für alles Schlechte verantwortlich. Niemand kommt auf die Idee, dass die Tatsache, dass es den Fußball überhaupt noch gibt, vor allem uns Fans zu verdanken ist.

Letzte Frage: Gehst du zum Derby?

Ich werde nicht hingehen. Es ist das Spiel, das ich am meisten spüre, aber ich werden nicht hingehen. Ich wäre auch um 12.30 Uhr nicht gegangen. Oder besser: ich wäre hingegangen, aber draußen geblieben. Jetzt haben sie das Spiel auf Montag verlegt, aber die Kernfrage ändert sich doch nicht. Und ich kann wirklich nicht glauben, dass irgendjemand so leicht seine Meinung ändern kann. Mit diesem Protest hat man eine Verantwortung übernommen und wenn irgendjemand glaubt, er hätte egwonnen, nur weil sie den Anstoß verändert haben, liegt der komplett daneben. Leider ist Kohärenz nicht mehr besonders modern. Ich hätte den Protest durchgezogen, auch wenn ich mir damit Kritik und Strafen eingehandelt hätte, aber das bleibt meine persönliche Überzeugung. Aber ich kritisiere niemanden, der sich gegen den Protest entschieden hat und zu jedweder Zeit zum Derby gegangen wäre.

Andrea

Eine Antwort auf „Ein Sieg der Ultras?“

[…] Vor kurzem berichteten wir noch über ein Derby ohne Emotionen. Der Protest von beiden Fanszenen scheint Wirkung gezeigt zu haben, denn das Derby wurde verlegt von Sonntag 12.30 Uhr auf Montag 20.45 Uhr. Beide Szenen waren bei der Partie anwesend und zeigten sich gut gelaubt. Aber von einem Sieg der fans kann man bei weitem nicht sprechen. Auf Realamp.it  ist ein wunderbar offenen Brief, wie viele Doriani das Derby trotz Verlegung sehen. Es bleibt also ein Beigeschmack. Für alldiejenigen die sich den offenen Brief auf italienisch nicht durchlesen möchten verweisen wir an dieser Stelle an Altravritra.com, der Blog von Kai Tippmann. Er führte ein wundervolles Gespräch mit dem Verantwortlichen von Sampdoria den Sampdoriani. […]