Im folgenden veröffentliche ich einen offenen Brief von Michael Welling, geschäftsführender 1. Vorsitzender von Rot-Weiss Essen, so wie er auf rot-weiss-essen.de veröffentlicht wurde. Hintergrund war die Entfernung des Spruchbands „Speziale libero“ beim Spiel vor 2 Wochen gegen die U23 von Borussia Mönchengladbach, meines Wissens, der einzige Fall von „Zensur“ bei vielen Dutzend gleichlautenden Äußerungen in Kurven weltweit. Der folgende Text ist lang, aber ich lege euch trotzdem ans Herz, ihn vollständig durchzulesen. Denn hier setzt sich ein Vereinspräsident in unerreichter Weise mit einer Thematik auseinander, die leider immer noch von weiten Teilen der Medien als reines „Ultrà -Thema“ behandelt wird. Als würden sich aus dem „Fall Speziale“ nicht wichtige Fragen ergeben, die für die gesamte Zivilgesellschaft relevant sind. Dass Welling zu anderen Schlüssen kommt: geschenkt. Aber dass er sich ganz offensichtlich mit dem Fall und dessen Auswirkungen ernsthaft und detailliert auseinandergesetzt hat, dass er sich die Zeit nimmt, sich mit „seinen“ Ultrà s und den verschiedenen Sichtweisen auseinanderzusetzen und seinen Standpunkt so ausführlich darzulegen, ist beispielhaft und uneingeschränkt positiv zu bewerten. Ein Mann, der sich informiert, Schubläden als das betrachtet, was sie sind, seine Sichtweise argumentiert, ohne die „Gegenseite“ unqualifiziert pauschal abzulehnen – genau so stelle ich mir Dialog vor, genau so stelle ich mir das Ringen um Konsens und Wahrheit vor, genau das bedeutet für mich Demokratie. Bei allen Differenzen: Ich wünschte, es gäbe mehr Wellings und weniger Schönaus.
VORBEMERKUNGEN: Der folgende Brief wendet sich an UE und zusätzlich an diejenigen Fans, die sich mit dem „Spezialfall Speziale“ tatsächlich inhaltlich und differenziert jenseits impulsiver emotionaler Reflexe und Vorurteilen auseinandersetzen wollen. Die Ausführungen sind lang geworden, weil das Thema insgesamt komplex ist und es viele Facetten gibt, die zu berücksichtigen sind. Ein Thema, das sich nicht für ein vorschnelles Urteilen eignet und das, liebe Vertreter der Presse, es aus unserer Sicht auch nicht zulässt, kurz und knapp als (wertende) Meldung behandelt zu werden, was keine Skandalisierungen zulässt und sich daher auch nicht für eine entsprechende Überschrift eignet. Die Ausführungen sind daher auch lang geworden, manchen werden diese zu lang sein. Wir bitten darum, dann erst gar nicht zu lesen und sich der Beurteilung zu enthalten, wir bitten die Presse darum, das Thema nicht unnötig aufzubauschen. Es ist zwar ein offener Brief, aus unserer Sicht eignet sich dieser aber nicht für eine verkürzte mediale Berichterstattung. Wir bitten schließlich diejenigen, denen das alles zu viel Text („zu viel Gerede“) ist, lediglich den Appell im Punkt 4 zu beachten, nämlich bei allen Beurteilungen zu differenzieren!
Liebe Fans von Rot-Weiss Essen, liebe Ultras, liebe UE,
„liebe UE“ wird so mancher wieder vorschnell urteilen, je nach Standort und (Vor-)Urteil wird es heißen, „wollen die sich anbiedern“ oder „die sind doch alles andere als lieb“. Aber genau um solche (Vor-)Urteile soll es gehen, dass „Liebe UE“ ist weder anbiedernd noch bedeutet dies, dass wir als sogenannte „Vereinsspitze“ alles komplett gut heißen, was Ihr, liebe UE, macht. Aber wir sind eben im Umkehrschluss nicht so unreflektiert, alles doof zu finden.
Am vor-vergangen Samstag, beim Spiel gegen Borussia Mönchengladbach U23, fanden wir aber einiges von Euch nicht okay – so wie Ihr einiges von uns nicht okay gefunden habt. Ehrlicherweise, das gehört in einer Beziehung auch dazu, zumal bei Rot-Weiss Essen, wo es sicherlich nicht immer eitel Sonnenschein gibt, wo man sich auch mal sagen darf: Hömma, das find ich scheiße! Wo man aber danach auch gemeinsam wieder ein Bier trinkt und gemeinsam für den Verein da ist. Das „Hömma, das find ich scheiße“ haben wir im Nachgang zum Samstag bereits gemacht, haben miteinander geredet und so auch einige Missverständnisse (mal wieder) ausräumen können. Diesen Dialog werden wir auch zukünftig weiter führen, wir werden aber trotz allem Gerede auch zukünftig unterschiedlicher Meinung sein in der Bewertung mancher Dinge, bei anderen werden wir übereinstimmen. Und das ist auch ganz normal und gut so!
An dem besagten Samstag haben wir uns nicht verstanden, obwohl wir noch am Tag zuvor einige Dinge gemeinsam haben klären können. Aber an Spieltagen ist alles anders, da kommt das normale „Spieltagskribbeln“ dazu (zugegeben, in dieser Saison kribbelt es weniger), da ist bei uns wie bei Euch organisatorischer Stress angesagt und der Fußball steht im Fokus. Da sich nach dem Samstag viele, viele Außenstehende und auch die Presse mit unserem „Streit“ beschäftigt haben, wollen wir hier nochmals für Euch, liebe UE, aber auch für alle Fans von Rot-Weiss Essen einige Dinge erklären, konkretisieren und – aus unserer auch subjektiven Sicht – gerade rücken.
Mit Blick auf das Spiel am Samstag sehen wir hier vor allem vier Themenkreise, die wir berücksichtigen müssen:
- Die Frage nach der „Polizei im Block“.
- Unser Gespräch vom Freitag zuvor und die Frage nach „Meinungsfreiheit und Zensur“.
- Die Beurteilung und Einschätzung vom „Fall Speziale“ und vor allem der damit verbundenen Symbolik.
- Der Reaktionen zum Samstag in den Fankreisen und auch der Presse.
Aber eins nach dem anderen.
Ad 1) „Polizei im Block“
Zunächst die Frage nach der „Polizei im Block“ oder auch des Aspekts, wer dafür gesorgt hat, dass das Spruchband „Speziale Libero“ abgehängt werden sollte. Hier ganz klar: Ich, Michael Welling, habe unseren Sicherheitsbeauftragten Sebastian Modes beauftragt, Euch darum zu bitten, das Spruchband abzuhängen bzw. es entsprechend vom Ordnungsdienst selbst abzuhängen. Hier gab es keinen Anlass oder Druck der Polizei, ganz im Gegenteil: Zwischen Vereinsführung und Polizei gab es am Spieltag überhaupt keine Kommunikation, weder zu dem Spruchband noch über weitere damit zusammenhängende Aspekte. Die Entscheidung wurde allein von mir gefällt, innerhalb von nur wenigen Minuten, gleichwohl von dem neben mir sitzenden Aufsichtsratsvorsitzenden Christian Hülsmann und meinem Kollegen Uwe Harttgen uneingeschränkt unterstützt. Zu den Gründen unter Punkt 3 etwas mehr. Entsprechend haben wir auch nicht ansatzweise formuliert, dass wir „sonst“ die Polizei in den Block schicken, um das Spruchband abhängen zu lassen.
Ganz im Gegenteil: Wir wollen Fußball sehen, wir wollen Fußball erleben und wir haben das Hausrecht bei unseren Spielen im Stadion. Die Polizei darf daher nur dann in den Block gehen, wenn wirklich Gefahr im Verzuge ist und wir mit unserem eigenen Ordnungsdienst an Grenzen stoßen. Dann muss die Polizei aufgrund ihres Auftrages sogar aktiv sein. Allerdings: Wir wollen vielmehr unsere Dinge selber regeln. Entsprechende (von wem auch immer kolportierte) „Drohszenarien“ sind daher kompletter Unsinn, sind schlicht Quatsch und in diese Richtung war weder am Samstag noch war jemals zuvor und wird auch zukünftig vereinsseitig eine Aktivität nicht realisiert werden. Vielmehr haben wir sogar in vergangenen Fällen die Kollegen der Polizei gebeten, davon abzusehen, entsprechende Handlungen wie Feststellung von Personalien jenseits des konkreten Bedrohungs- und Gefahrenfalles im Stadion durchzuführen. Das kann man nämlich sicherlich anders lösen und wir haben im Dialog mit der Polizei immer wieder erleben dürfen, dass man hier auch polizeiseitig entsprechendes Verständnis für unsere Sichtweise zeigt.
Wir sind den Kolleginnen und Kollegen der Polizei sehr dankbar, dass sie, teilweise auch unter wenig erbaulichen Rahmenbedingungen, im Stadion Dienst schieben, um entsprechend in tatsächlichen Gefahrenmomenten eingreifen zu können, wie es leider beim Spiel gegen den MSV Duisburg im Pokal der Fall sein musste. Auch die Kolleginnen und Kollegen der Polizei können sich in der Mehrzahl sicherlich andere Bedingungen für Ihren Dienst vorstellen, als sie eben manchmal leider beim und um den Fußball herum vorzufinden sind. Vor allem das oftmals unreflektierte und oberflächliche „Freund“ / „Feind“ -Denken ist dabei wenig hilfreich.
Daher nochmals sehr deutlich: wir wollen – mit den oben beschriebenen, dann leider notwendigen Ausnahmen – keine Polizei in den Fanblöcken. Es wäre vielmehr aus unserer Sicht, aus Eurer Sicht und sicherlich auch aus Sicht der Polizei der Idealfall, wenn wir zukünftig Fußballspiele an der Hafenstraße sogar ganz ohne Polizeipräsenz erleben dürfen. Bis dahin ist es allerdings – wie die Vorkommnisse im Spiel gegen Duisburg gezeigt haben – noch ein weiter Weg für uns alle. Wir sollten aber dennoch alle gemeinsam an diesem Ziel arbeiten, sollten gemeinsam nach Lösungen suchen: Verein, Fans und auch Polizei.
In diesem Zusammenhang noch ein kleiner Exkurs: Wir finden es bedauerlich, dass sich hier (insgesamt in Deutschland, vielleicht zum Teil auch in Essen, da ist es aber u.E. nicht so extrem) zwischen Polizei und (Ultra-)Fans scheinbar eine undurchdringbare Mauer aufbaut. Wir sind überzeugt, dass auch hier der Dialog helfen kann, wenn beide Seiten diesen unvoreingenommen vornehmen wollen. Dazu ist es sicherlich wenig hilfreich (und das finden wir ebenfalls bedauerlich), wenn pauschal alle Polizisten als doof oder als „Bastard“ bezeichnet werden. Natürlich wissen wir, dass auch das „ACAB“ ein Symbol ist, ein Symbol dafür, dass man nicht immer zufrieden ist mit dem Miteinander, dass man dem Gegenüber Fehler vorwirft und sich unverstanden fühlt. Wir sind sicher, dass auch bei den Fans „eigentlich“ eine andere Wahrnehmung vorherrscht, dass man sich natürlich auch im Klaren darüber ist, dass hier unzulässig pauschalisiert wird, daher sind eben alle apodiktischen Beleidigungen und (Vor-)Urteile nicht wirklich hilfreich. Für uns heißt ACAB weiter „All colours are beautiful“, wir hoffen, dass die meisten von Euch das auch so sehen. Es hilft nichts, immer nur auf den anderen zu zeigen und die Dinge zu überhöhen, mehr Gelassenheit im Umgang miteinander tut hier beiden Seiten gut. Von daher war unserer Ansicht nach das Skandieren von „ACAB“ beim Verlassen des Stadions unsinnig.
Ad 2) Meinungsfreiheit und Zensur
Ja, noch am Vortag hatten wir zusammengesessen und hatten, so haben es wohl alle Parteien empfunden, ein sehr gutes, produktives und hilfreiches Gespräch. Wir sind dankbar dafür, dass wir das machen und so Dinge klären können, die sonst eher im „Stille Post-Verfahren“ geklärt werden mit den entsprechenden Informationsverlusten und -verzerrungen von Ohr zu Ohr. Was wir da gemeinsam verabredet haben, bleibt natürlich bestehen: Ihr braucht uns nicht vorher die Transparente, Zaunfahnen oder die Inhalte der Choreos zeigen. Wir wissen, mit welchem Herzblut, mit wie viel Einsatz und mit welcher Leidenschaft Ihr diese vorbereitet, wir wissen um den Einsatz an Zeit und Geld, den das kostet und wir sind stellvertretend für den Verein dankbar dafür, dass Ihr Euch hier und an anderen Stellen so engagiert und einbringt. Das ist nicht in Worte zu fassen und macht vieles aus, was den RWE als Traditionsverein von anderen Vereinen mit eben nicht so leidenschaftlichen Fans unterscheidet. Zudem vertrauen wir Euch hier, dass bei den Aussagen nicht über das „Ziel“ hinausgeschossen wird. Wir werden das nicht kontrollieren! Und wir sind uns im Klaren darüber, dass da auch mal kritische Töne kommen können, bei denen ihr mit Spruchbändern Stellung nehmt, Euch für Eure Interessen stark macht, Aktionen oder Entscheidungen von uns kritisiert oder, oder, oder. Wenn Ihr das macht, dann macht ihr das. Punkt.
Aber nicht alles werden wir gut finden, so wie ihr nicht alles gut findet, was wir machen oder sagen. Und wir werden das entsprechend auch kommentieren und uns gegebenenfalls distanzieren. Wir sind überzeugt, dass das ganz normal ist. Aber, und das ist für den „Spezialfall Speziale“ entscheidend: Es gibt hier eben Grenzen, die wir ziehen müssen. Wir wollen (und können oftmals) diese Grenzen nicht im Vorfeld ziehen, wir sind zudem sicher, dass es für den notwendigen Dialog sogar gut ist, wenn wir nicht irgendeinen Verbots- oder Gebotskatalog definieren, der als Rahmen für Eure Aktionen gilt – und wir wissen, dass das dann erst Recht entsprechend gegenteiliges Handeln motivieren könnte (so wie das trotzige Kind und so wie natürlich klar war, dass das Spruchband beim Spiel in Bochum zu sehen war). Aber es gibt eben Grenzen, Grenzen, die nicht überschritten werden sollten. Dazu gehört, dass wir jede Form von Diskriminierung weder akzeptieren noch tolerieren, dass alles, was homophob oder rassistisch oder in anderer Form diskriminierend ist, von uns beanstandet werden wird. Dies nicht nur im Nachgang, sondern immer auch in den Momenten, wo so etwas gezeigt oder skandiert werden würde. Wir werden zudem auch keine Aussagen und Symbolik akzeptieren, die Gewalttätigkeit, in welcher Form auch immer, toll findet und wir werden schließlich auch bei Geschmacklosigkeiten und (persönlichen) Beleidigungen eine entsprechende Grenze ziehen müssen. Das hat aber aus unserer Sicht nichts mit „Zensur“ zu tun, denn Meinungsfreiheit stößt hier an ihre Grenzen. Wenn wir hier einschreiten, ist das dann eben das notwendige Durchsetzen der entsprechenden Werte von Rot-Weiss Essen, die hier größer und höher anzusiedeln sind, wie eine Meinung, die nicht mit den Werten von Rot-Weiss Essen konform ist. Es geht darum, dass wir uns als Verein klar distanzieren, dass wir hier nicht untätig zusehen können, wenn im Namen des Vereins oder im Zusammenhang mit dem Verein entsprechende Äußerungen oder Aktivitäten kommen. Dafür kämpfen wir und dafür stehen wir auch ein im Sinne aller Fans und Mitglieder von Rot-Weiss Essen.
Noch im Gespräch haben wir das betont, haben etwa nochmals auf das unsägliche Transparent in Köln hingewiesen, das den Hubschrauberabsturz mit tödlich verunglückten Polizisten zum Gegenstand hatte. Wir wissen, dass Ihr für diese Aktion in Köln nicht verantwortlich wart und wir wissen auch, dass Ihr auch keine diskriminierende Symbolik nutzt.
Aber es geht eben darum zu verdeutlichen, dass es Grenzen gibt. Viele Grenzen verstehen sich von selbst ohne große Erklärungen, wir denken, da sind wir uns einig. Aber einige dieser Grenzen sind im Vorfeld nicht scharf zu ziehen und müssen im Einzelfall betrachtet werden. Und genau hier kann es immer wieder zu unterschiedlichen Wahrnehmungen kommen. Diese gibt es – auch nach unserem Gespräch – im Fall Speziale durchaus.
Ad 3) Der Fall Speziale
„Speziale Libero“ stand auf Eurer Zaunfahne am Spieltag gegen Borussia Mönchengladbach U23, „Lasst Speziale frei“. Wir sind sicher, dass viele, dass die meisten Zuschauer (und tatsächlich oder vorgegeben wohl auch viele Vereinsvertreter von anderen Vereinen) überhaupt keine Ahnung hatten, worum es bei dem Spruchband geht, wer oder was Speziale ist. Mehr Unwissenheit oder eine vorgetäuschte Unwissenheit hätten uns beim Spiel gegen Gladbach U23 den Ärger erspart, in diesem Fall war es allerdings so, dass wir uns mit dem Fall Speziale durchaus auseinandergesetzt hatten. Durch unsere unterschiedliche Wahrnehmung der Situation haben sich nun zudem einige etwas intensiver mit der Thematik beschäftigt, dies vielleicht ein sehr positiver Nebeneffekt. Wir sind uns in der Einschätzung einig, dass es im Fall Speziale viele Aspekte gibt, die ein kritisches Hinterfragen durchaus sinnvoll erscheinen lassen, dass es sicherlich berechtigt ist, dass man auf mögliche Ungereimtheiten hinweist, die sich im Zuge der ersten und zweiten Instanz ergeben haben. Trotz dieser vielleicht sogar berechtigten Kritikpunkte an der Behandlung des Falles durch die italienische Justiz ist es aber unbestritten auch so, dass Speziale in gewalttätige Auseinandersetzungen im Rahmen eines Fußballspiels verwickelt war. Schließlich hat er selbst zugegeben, dass er eine Waschbeckenverkleidung geworfen hat, womit er die Verletzung und ggf. auch den Tod von Menschen zumindest billigend in Kauf genommen hat. Ob dies den Tod des Polizisten tatsächlich zur Konsequenz hatte, ist unklar bzw. besteht daran durchaus berechtigter Zweifel, wenn man den vielen Berichten folgt. Aber die Tat selbst ist unbestritten, Speziale wurde inzwischen in der zweiten Instanz verurteilt. Alleine dieser Hintergrund erscheint uns problematisch. Mit Blick auf die Tatsache, dass Speziale an Gewalttätigkeiten beteiligt war, ist für uns die entscheidende Frage hier:
Können wir als Rot-Weiss Essen tatsächlich Aktionen tolerieren (und nicht dagegen vorgehen), in denen sich mit einem gewalttätigen Fußballfan solidarisiert wird?
Trotz allem Verständnis für die Problematisierung der Fallumstände und der vermeintlichen Ungereimtheiten können wir das aus unserer Sicht nicht akzeptieren. Denn es geht oftmals dann gar nicht mehr um den Einzelfall, sondern das Transparent hat eine entsprechende Symbolik, wobei die Deutungsmöglichkeiten vielfältig sind. Und ohne weitere Erklärungen ist eine solche Lesart („Solidarisierung mit einem Gewalttäter“) zumindest denkbar. Da hilft es auch nicht, darauf hinzuweisen, dass sich andere erstmal mit dem Fall beschäftigen sollen. Auch wenn man sich mit dem Fall beschäftigt und die durchaus problematischen Umstände erkennt, bleibt die Lesart der Solidarisierung mit einem Gewalttäter als Möglichkeit bestehen.
Schließlich wird die Symbolik noch durch die Vorkommnisse rund um das italienische Pokalfinale angereichert, wo der „Ultraführer“ aus Neapel der versammelten Staatsmacht seinerseits seine „Macht“ demonstrierte, indem er den Beginn des Spiels um fast eine ganze Stunde blockiert hat. Die Fernsehbilder und Fotos von diesem Spiel sprechen Bände. Sowohl im als auch vor dem Stadion kam es zu regelrechten Schlachten. Sicherlich, auch hier gibt es in den einschlägigen (allerdings: ultranahen) Veröffentlichungen Relativierungen. Es gibt eben aber auch die andere Sicht der Dinge, nämlich dass hier Macht demonstriert werden sollte, dass hier mit Gewalt gedroht wurde. Und Fakt bleibt, dass erst nach den entsprechenden Eingeständnissen an den Ultraführer aus Neapel das Pokalspiel in Rom stattfinden konnte. Und eben dieser Ultraführer hat wenige Tage vor dem Zeigen der Zaunfahne beim Spiel gegen Mönchengladbach die Machtdemonstration in Rom mit einem T-Shirt vorgenommen, auf dem die gleiche Botschaft „Speziale Libero“ steht. Auch hier gerne wieder: vielleicht nur ein Zufall, vielleicht kein tatsächlicher Zusammenhang, aber in zeitlich unmittelbarer Nähe. Und: bei dem Transparent „Speziale Libero“ geht es eben auch um Symbolik und die Lesart ist möglich (und wird von einigen Beobachtern auch so vorgenommen, siehe etwa die Italien-Korrespondentin der Süddeutschen Zeitung), dass hier auch noch eine Solidarisierung mit eben den Ultras von Neapel oder deren Ultraführer und den Aktivitäten rund um das Pokalspiel in Rom zum Ausdruck gebracht werden soll.
Und auch diese Lesart ist für den Verein Rot-Weiss Essen in keiner Weise tolerierbar. Wir distanzieren uns in aller Form und Deutlichkeit von solchen Zu- und Umständen, wir werden nicht akzeptieren, dass der Fußball unter Gewaltandrohung oder tatsächlicher Gewaltanwendung leidet und dass hier entsprechende Personen aufgewertet werden. Bei Gewalt gibt es keine Toleranz. Vor diesem Hintergrund, vor dem Hintergrund dieser möglichen Symbolik der Zaunfahne, haben wir uns dazu entschlossen, Euch aufzufordern, das Spruchband abzuhängen und haben dies dann selber durch die Kollegen vom Ordnungsdienst entfernen lassen. Dies würden wir auch zukünftig genauso machen.
Sicherlich, auch andere Lesarten sind möglich. Ihr habt im Gespräch erklärt, dass Ihr erst in unserem gemeinsamen Gespräch durch meinen Hinweis auf den – möglichen – Zusammenhang zum Pokalspiel in Rom und eine solche Deutungsform aufmerksam wurdet und dass Ihr diesen Zusammenhang entsprechend nicht herstellen konntet und wolltet. Und im Gespräch habt ihr im Nachgang erklärt, dass ihr lediglich darauf hinweisen wolltet, dass eben hier vielleicht ein Mensch mit einer gemäß den Umständen des Falles unverhältnismäßig hohen Strafe belegt wurde – mehr nicht. Das ist auf eine Art sogar nachvollziehbar und es ist auch nachvollziehbar, dass Ihr Euch entsprechend für Eure Interessen einsetzt, weil es mit Blick auf Fußballfans viele Vorurteile gibt und es auch oft zu ungerechtfertigten Vorverurteilungen kommt. Aber es gibt eben auch andere Lesarten, es gibt eben auch eine andere Symbolik. Dies gilt es aus unserer Sicht zu berücksichtigen, es gilt, sich der möglichen Konsequenz einer anderen Deutung bewusst zu sein. Ihr habt Euch, das ist Euer gutes Recht, hier erst im Nachgang zur Aktion klar artikulieren wollen. Hättet Ihr dies im Vorfeld getan, hätte man die Gegebenheiten anders bewerten können. So war es nicht mehr möglich, so mussten wir die Symbolik interpretieren und haben versucht, entsprechend zu verdeutlichen, dass wir eine solche Lesart nicht akzeptieren können. Dazu kommt, dass die entsprechende Symbolik zwar nicht intendiert ist, dass aber dennoch „andere“ diese Lesart sehen und das Plakat so deuten. Und schließlich ging es natürlich auch um Symbolik, für Euch, so interpretiere ich das allerdings nur, ist eben der Fall Speziale ein Symbol für das gefühlte Unrecht, dass Fußballfans mitunter erleben. Auch hier gibt es in der Sache keinen Dissens, allerdings glauben wir, dass es sinnvollere, eindeutigere Symbole gibt, um für diese Sache zu kämpfen.
Wir haben dieses Thema im Übrigen auch sehr intensiv in unserer letzten Aufsichtsratssitzung diskutiert. Bis als Ralf Schuh als Fanvertreter haben alle anwesenden Aufsichtsratsmitglieder meine Bewertung der Situation vollinhaltlich unterstützt.
Ad 4) Der Reaktionen zum Samstag in den Fankreisen und auch der Presse.
Schließlich noch der letzte Punkt, der ein Appell sein soll. Ein Appell aber weniger an UE, sondern an viele andere Fans und Beobachter, die im Nachgang zu den Vorkommnissen rund um das Gladbach Spiel sich in Foren, in Gesprächen oder in Zeitungen bemüßigt fühlten, Stellung zu nehmen. Zunächst: Stellung nehmen ist gut, daher dient das Spruchband bei aller Uneinigkeit über die Symbolik dazu, sich mit der Sache zu beschäftigen. Aber wenn, dann bitte richtig. Es war erschreckend, mit welcher Oberflächlichkeit sich mitunter zu der Thematik geäußert wurde, wie einfach nur Parolen formuliert wurden ohne sich tatsächlich intensiv mit den Perspektiven zu beschäftigen. Wie teilweise lediglich (Vor-)Urteile bedient oder abgearbeitet wurden, statt sich der Sache anzunehmen. Und der Appell geht dahin, dass man hier viel, viel mehr reflektieren und differenzieren sollte, dass man hier etwa in der Sache durchaus unterschiedlicher Meinung sein kann, dass aber etwa eine Meinungsverschiedenheit zu einem Spruchband und ein Nicht-Tolerieren des Spruchbandes und der entsprechend gedeuteten Symbolik von einem prinzipiellen Urteil über Fans zu trennen sind. Denn wie unreflektiert manche nach dem Vorfall gegen Gladbach auf „alle Ultras“ eingedroschen haben, ist traurig und genauso inakzeptabel wie das „All Cops are…“. Dies ist einfach apodiktisch und entsprechend falsch!
Es ist in einer Fanszene, zumal in einer eines Traditionsvereins wie in Essen, zumal mit den entsprechenden Leidenshintergründen, doch ganz selbstverständlich, dass es zu unterschiedlichen Wahrnehmungen kommt. Es ist nicht nur selbstverständlich, sondern doch sogar gut, zeigt dies doch, wie heterogen die Fanszene ist, wie unterschiedlich die Fans sind und welche unterschiedlichen Gründe sie für ihr Fansein haben und wie unterschiedlich man das lebt. In diesem Zusammenhang muten dann Aussagen, mit denen man die Legitimation seiner eigenen Meinung zu unterstreichen denkt, wie „ich geh schon x Jahre zu RWE“ oder „ich bin bei jedem Spiel“ wie – sorry – vorpubertäre Vergleiche an. Es kann doch niemand ein besserer oder tollerer Fan sein, weil er etwa schon länger dabei ist (weil er ja vielleicht auch älter ist) oder weil er zu jedem Spiel fährt, während andere aufgrund persönlicher Lebensumstände das nicht (mehr) schaffen. Vor allem sind solche Parameter nicht ausreichend, um seiner Meinung eine entsprechende Autorität zu verleihen. Es geht hier um die Sache, um Sachargumente. Und: es geht um Differenzierung. Denn dieses „Ultra-Bashing“, wie es teilweise erfolgt, ist doch auch kompletter Unsinn. Zum einen sind auch die Ultragruppierungen der Vereine teilweise in der Art und Weise unterschiedlich, wie sie ihr Ultra-sein ausleben, zum anderen ist auch UE oder sind die Ultra-Gruppen in Essen doch auch nicht eine komplett homogene Gruppe.
Und selbst als Gruppe ist es doch falsch, die Gruppe, hier UE, lediglich auf ein Spruchband zu reduzieren, das in diesem Fall vereinsseitig als nicht tragbar gesehen wird. Hier wird dann gerne vergessen, dass man gerne mitsingt, wenn UE entsprechenden Support organisieren, da nur wenige von selbst entsprechend sich artikulieren. Es wird vergessen, dass UE als Gruppe viele Dinge für den Verein, für die Fans und für die Wahrnehmung des Vereins realisiert, wie etwa unzählige Choreos in den letzten Jahren. Und es wird vergessen, dass Leute von UE sich bei der FFA, in der GMS-Initiative, bei der Organisation der Saisoneröffnung etc. etc. etc. unter Einbringung von viel Zeit und mitunter auch Geld engagieren.
Daher: es geht hier nicht um „die doofen xxx“ dort oder „die doofen yyy“ hier. Es geht hier darum, dass man sich in der Sache nicht immer einig sein muss, dass man dann in der Sache sich auch gerne mal intensiv streiten darf und sich verbal dies auch deutlich macht. Dass man vielleicht auch nach einem solchen Streit nicht einer Meinung ist, dass man aber vor allem versucht, hier den Dialog zu suchen, das miteinander zu leben, sich auszutauschen und miteinander zu sprechen. Dass man hier versucht zu verstehen, was den Gegenüber bewegt und warum er das eine tut oder das andere lässt. Dass man aber selbst dann, wenn man sich in der Sache nicht einig werden kann, dass man daraus nicht gleich apodiktisch ableitet, dann sind ja doch alle doof, sondern dass man sich bewusst macht, dass es hier viele Facetten gibt.
So, gerade hier am Schluss musste ich aufpassen, dass ich nicht zu allgemein und zu prosaisch wurde. Ich hoffe aber, dass der Appell, sich miteinander auszutauschen, sich der Unterschiedlichkeit bewusst zu sein und im Sinne des Miteinanders zu agieren und zu handeln, klar geworden ist. Allen geht es dabei darum: Nur der RWE!
Liebe Grüße und ein schönes letztes Saisonspiel gegen Siegen: Sommerpause jetzt – selten haben wir die so herbeigesehnt und schon bald werden wir schon wieder die ersten Entzugserscheinungen verspüren, da hilft auch keine WM, da hilft: NUR DER RWE!
Euer: Michael Welling
Quelle: rot-weiss-essen.de
5 Antworten auf „Spezialfall Speziale – offener Brief von Michael Welling“
[…] durchaus kritisch, aber respektvoll und auf Augenhöhe. Ein gutes Beispiel ist sein Ton in einem offenen Brief 2014. Was kannst du zu seinem Verhältnis mit Fans und Szene erzählen? Wie schon leicht […]
[…] beim Derby Catania-Palermo 2007 verurteilt und sitzt seitdem in Haft. Obwohl sehr viele Menschen, Fans, Journalisten wie Autoren seit Jahren erhebliche Zweifel an dem Urteil haben, sollte man diese am […]
[…] Spezialfall Speziale – offener Brief von Michael Welling […]
Mir fällt zu diesem Statement eigentlich nur ein Wort ein, grandios! Ganz ehrlich, ein wirklich starker Text und ich kann mir vorstellen, das dieser Mensch an jedem Spielttag eine gesunde Portion Menschenverstand ins Stadion transportiert und dafür bestimmt auch sehr viel kritisiert wird, bzw. Vorurteile ala Kuschelverein und ähnliches zu hören bekommt.
Respekt, wer hier allerdings negative Bewertungen abgeben kann ist mir definitiv ein Rätsel.
Das mit den negativen Bewertungen passiert doch meistens, wenn es um irgendeinen deutschen Verein geht: „Iiiih, die stinken, da drück ich mal auf einen Stern“. Ich würde mich auch freuen, wenn die Leute ihre Kritik wenigstens in nem Satz drunterschreiben würden, aber da kommt dann wohl der Tastatur-Hool durch. 😉