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Verbrüderungen

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Spricht man über italienische Ultras und deren Verhältnis zu Fans anderer Vereine, dreht es sich in der Regel um Konflikte, Beleidigungen und Gewalt. Die „Brigate Gialloblù“ von Hellas Verona brachten das Konzept vor vielen Jahren mit ihrem legendären Spruchband „Noi odiamo tutti“ auf den Punkt – Wir hassen alle! Dabei stimmt die Pose nur zum Teil. Während es Ultras in der Regel darum geht, das eigene Territorium gegen das Eindringen des Gegners zu verteidigen und umgekehrt in deren Stadt Dominanz zu zeigen, blieb immer schon Raum für Freundschaften. Mehr noch, für „Gemellaggi“. Der vom italienischen Wort für „Zwillinge“ abgeleitete Begriff bedeutet die engste Form der Verbindung, die Fans verschiedener Farben miteinander eingehen können. Und bereits mit dem Entstehen der ersten italienischen Ultragruppen in den sechziger Jahren entwickelten sich parallel zu den zahllosen Feindschaften eben auch teils Generationen überdauernde Verbrüderungen. Und diese werden mit spektakulären Choreografien, gemeinsamen Festen und gemeinsamem Support regelmäßig bekräftigt.

Dabei erschließen sich die Gründe für diese innigen Verbindungen nicht immer auf den ersten Blick, einige muten heute geradezu absurd an. In der Pionierzeit der 70er Jahre verbündeten sich beispielsweise geografische „Nachbarn“ wie Modena und Reggio Emilia oder sogar Padova und Vicenza. Parma und Modena schlossen sich gegen Reggiana und Spal zusammen, die ihrerseits verbrüdert waren. Bündnisse, die in der Folgezeit zu erwartbaren Derbies wurden. Auch ist eine der engsten und dauerhaftesten Beziehungen italienischer Fankurven die zwischen Hellas und Fiorentina, die seit mehr als 40 Jahren andauert und auch die Auflösung der maßgeblichen Gruppen überlebt hat. Politsch hatten sich beide Kurven schon 1976 nichts zu sagen. Die „Brigate Gialloblù“ machten aus ihrem rechten Weltbild nie einen Hehl, auf der politisch ganz anderen Seite stand das 1978 gegründete „Collettivo Autonomo Viola“ aus Florenz. Das ist, als würde sich Braunschweig mit Tennis Borussia verbandeln, um in den Farben zu bleiben. Bis zum Jahr 1976 war das Verhältnis der beiden Fanszenen erwartbar hitzig, auch wenn man dem Gegner der Auseinandersetzungen durchaus Respekt zollte. Dann aber fuhr Stefano Biagini, der als „Pompa“ in die Geschichte der italienischen Ultras einging, als Provokation mit dem Moped durch die blaugelbe Fankurve von Hellas. Diese nahmen es sportlich und der Applaus für die Aktion mündete schließlich in einem der bedeutendsten „Gemellaggi“ Italiens. Als sich die „Brigate“ 1991 auflösten, ehrte die Florentiner „Curva Fiesole“ die Gruppe, indem sie sich in blau und gelb tauchte.

Einer der Gründe für Fanfreundschaften liegt also in gegenseitigem Respekt, ein Wert der in der italienischen Ultrawelt höher geschätzt wird als beispielsweise politische Orientierungen. Respekt, weil der Gegner sich der Auseinandersetzung stellte. Respekt, weil der Kampf fair ablief. Respekt, weil man sich als Ultras schätzt. Auch die „Gemellaggi“ zwischen Cosenza und Ancona oder die guten Beziehungen von Terni und Livorno sind aus wütenden Prügeleien entstanden. Von außen betrachtet würde man vielleicht vermuten, dass die politisch im Gleichschritt marschierenden Fans aus Ternana und Livorno eine ganz natürliche Sympathie füreinander empfunden hätten. Aber auch hier lernte man sich zunächst in Jahren der körperlichen Auseinandersetzung schätzen. Respekt für andere, gegnerische, Ultras kann einen Wert darstellen, der vieles Andere überlagern kann. Epochal war das Spruchbanner „Ehre für Pompa“, das die Mailänder Curva Sud im Oktober 1992 in Florenz entrollte. Biagini war kurz vorher verstorben und die Lombarden gewährten ihm die höchste Ehre, die eine verfeindete Kurve zu vergeben hat. Warum? Im Jahr 1978 besuchten die Fiorentini das San Siro. Nachdem es bereits im Vorfeld der Partie zu Auseinandersetzungen gekommen war, entrollten die Viola im Stadion ihre Zaunfahne. Das San Siro verfügte seinerzeit noch über keine Blocktrennungen und so nahmen die Mailänder die Herausforderung an und machten sich in Richtung Gästeblock auf den Weg. Trotz beherzter Angriffe seitens der zahlenmäßig überlegenen „Brigate Rossonere“, „Fossa dei Leoni“ und „Commandos Tigre“, behielten die Gäste ihre Fahne. Auch weil Biagini das Stück Stoff praktisch im Alleingang verteidigte. Seine Kopfverletzungen mussten mit 41 Stichen genäht werden, aber die Anerkennung konnte ihm niemand nehmen. In einem offiziellen Schreiben an die drei Gruppen bedankte sich das CAV ausdrücklich für die Ehrerbietung der Rotschwarzen aus Mailand.

Ein weitere Grund für Verbrüderungen, wenn auch häufiger für wütende Feindschaften, war das Geschehen auf dem Platz. Sportliche Gründe. Entgegen der Mär von den „Chaoten, dies sich für Fußball nicht interessieren“ sorgt das Spiel auf dem grünen Rechteck durchaus für flammende Emotionen. So fanden beispielsweise die Fanlager aus Napoli und Genoa zueinander. 16. Mai 1982, letzter Spieltag der Serie A. Milan spielte gegen den Abstieg, drehte das Spiel in Cesena nach einem 2:0 Rückstand noch 2:3 und drohte sich auf Kosten von eben Genoa, das in Neapel 1:2 hinten lag, zu retten. Daran wiederum hatten die Süditaliener überhaupt kein Interesse und so spielte die Mannschaft nicht eben am Limit. Das Stadion begann derweil, die Angriffsbemühungen der Liguren zu unterstützen. Als Mario Faccenda kurz vor Schluss tatsächlich zum Ausgleich traf, explodierte das gesamte Stadion in einem Freudentaumel und legte den Grundstein für eine bis heute andauernde Verbrüderung der beiden Fanlager. Im Jahr 2007 wurde diese noch einmal bekräftigt, als beide Teams nach einem Unentschieden in Genua den gemeinsamen Aufstieg in die höchste Spielklasse feierten.

Um einen kleinen Einblick in die Komplexität von Freundschaften und Feindschaften im italienischen Fußball zu geben, ist an dieser Stelle zu erwähnen, dass von den 70er Jahren bis zu diesem Schicksalsjahr 1982 Milan und Genoa miteinander verbrüdert waren. Man kannte sich aus gemeinsamen Manifestationen der außerparlamentarischen Linken und übernahm diese Nähe auch ins Stadion. Bis zum 18. April, als Milan sein Abstiegsduell im Stadio Marassi mit 2:1 gewann. Der Jubel der Mailänder darüber stieß den „Grifoni“ übel auf. Vor allem, weil sich Häme und Spott darunter mischte. Der Hass aufeinander kulminierte im Jahr 1995, als der junge Genoa-Fan Vincenzo Spagnolo vor dem Stadion von einem 18-jährigen Milanista der „Brigate II“ erstochen wurde. Fans des AC Milan war danach für 15 Jahre die Auswärtsfahrt nach Genua verwehrt, weil der Staat nicht für die öffentliche Ordnung und Sicherheit garantieren konnte.

Neben dem in der Auseinandersetzung gewonnenen Respekt und dem Geschehen auf dem Platz gibt es natürlich noch weitere Faktoren, die Fankurven verschiedener Farben zueinander führen können. Eine wichtige davon ist die Beduinenregel „Der Freund meines Freundes ist mein Freund“. Umgekehrt gilt das natürlich auch. Heute mutet das bizzarr an, aber Anfang der 80er Jahre waren Milanisti und Romanisti miteinander verbrüdert. Das Ganze war eher auf Initiative von Einzelpersonen entstanden, hielt auch nur wenige Spielzeiten und ist heute weitgehend vergessen. Das fragile Gebilde gab dennoch dem Stadtrivalen Inter Anlass, sich mit den Fans von Lazio zusammenzutun. Aber während das Ex-Gemellaggio von Roma und Milan im Juni 1989 im Tod des 19-jährigen Roma-Fans Antonio de Falchi mündete, dauert die Freundschaft zwischen der Curva Nord von Inter und den Laziali aus Rom bis heute an und wird mit zahlreichen gegenseitigen Besuchen gefeiert. Sicherlich stellte hier die politische Ausrichtung beider Kurven den Kitt bereit, der die beiden aneinander band. Diese Freundschaft überlebte auch Belastungsproben wie das UEFA-Cup-Finale im Mai 1998 in Paris. Am 5. Mai 2002 besiegelte ein 4:2 von Lazio gegen Inter den Traum der Mailänder von der Meisterschaft und man feierte trotzdem gemeinsam. Geradezu legendär wurde der Support von Lazio gegen die eigene Mannschaft in einem Lazio-Inter 2010, das die Straße für den Scudetto von Inter ebnete. Leidtragender war der AS Roma.

Dass Politik allein aber nicht ausreicht, um gleichgerichtete Kurven in Freundschaft zu vereinen, zeigt das Beispiel von Inter und Hellas Verona. Beide waren durch ein „Gemellaggio“ miteinander verbunden, nach der Auflösung der „Brigate Gialloblù“ hatte die neue Generation der Veroneser Ultràs aber keine Lust mehr auf diese Freundschaft. Sie schickten einen Emissär zur Curva Nord, der denen das Ende der Freundschaft mitteilte und ein hastig organisierter Faustkampf besiegelte den Beginn einer innigen Feindschaft der beiden Kurven. Als die beiden im Dezember 2012 im Pokal nach langen Jahren wieder aufeinandertrafen, füllten an einem nebligen Dienstagabend mehr als 7.000 Veronesi die Ihnen zugeteilten Bereiche und bereiteten den Sicherheitsverantwortlichen schlaflose Nächte.

Auch die seit 1973 bestehende Freundschaft zwischen dem FC Torino und der Fiorentina basiert auf einem gemeinsamen Gegner: vereint werden beide Fanlager durch ihren historisch gewachsenen Hass auf Juventus. Das einzige aktuelle Gemellaggio der Curva Sud des AC Milan mit Brescia basiert auf einer gemeinsamen Abneigung gegen Atalanta. Ebenso sportlich begründet, wenn auch auf eher ungewöhnliche Art und Weise, ist das Zusammenspiel von Lecce und Palermo. Als die Sizilianer 1986 wegen finanzieller Auffälligkeiten vom Verband FIGC aus dem Vereinsregister gestrichen wurden, war es einzig der Präsident von Lecce, Franco Jurlano, der sich gegen diese Entscheidung aussprach. Die Fans aus Palermo danken es den Leccesi bis heute mit inniger Zuneigung, selbst der letzte Spieltag der Serie B 2003 konnte daran nichts ändern, als beide Teams gegeneinander um den Aufstieg spielten . Nicht immer klappt das wie gewünscht. So bemühte sich der aus Kampanien stammende Präsident von Foggia Jahre lang, eine Freundschaft mit Napoli zu installieren. Vor den Spielen wurden die Fans hier häufig mit neapelfreundlicher Musik animiert. Die so entstandene Pseudo-Freundschaft war nie so richtig innig und hielt auch nur ein paar Monate. Am 3. Mai 1992 verlor Napoli sein Spiel in Foggia 1:0, die wütenden Neapoletaner stürmten den Platz und kehrten zwar ohne Punkte, dafür mit der Zaunfahne von Foggia wieder heim.

Andere Freundschaften, und ich vermute die meisten, basieren auf Einzelkontakten. Genau wie die Freundschaften italienischer Kurven ins Ausland waren es oft einer oder wenige Fans, die Kontakte in eine Kurve hatten. Bei gemeinsamen Stadionbesuchen lernte man sich dann kennen und wer jemals in Italien zum Essen eingeladen wurde weiß, wohin das führt. So trafen sich Fans vielleicht an der Universität oder die jeweiligen Fanzine-Herausgeber tauschten sich aus. Auch Material, Schals und Aufkleber, wurden gesammelt und getauscht und auch so kam es zu Dialog und gegenseitigen Besuchen. Wenn man sich sympathisch fand, konnten sich solche Freundschaften durchaus auf eine gesamte Gruppe oder Kurve ausdehnen. In diese Kategorie fällt auch die italienische Besonderheit der „Dreiecke“. Wenn Ultras befreundeter Kurven sich gegenseitig besuchten, gab es hierbei oft Gelegenheit, weitere Freunde kennenzulernen. Und, bei Gefallen, ein „Gemellaggio“ über drei Ecken zu entwickeln. Die Triangel Modena – Venezia – Pistoia, Cosenza – Genoa – Pisa, Reggina – Bari – Salernitana oder Ancona – Napoli – Genoa sind beispielsweise so entstanden. Gäste wuden in eine Kurve eingeladen und lernten dort die anderen Freunde kennen. Das „Gemellaggio“ von Novara und Rimini beispielsweise rührt daher, dass Exponenten aus Novara ihren Urlaub regelmäßig an der Adriaküste verbrachten und dort einheimische Fans kennen und schätzen lernten. Nicht nur, aber jeden Sommer wird diese Verbrüderung am Urlaubsort aufgefrischt. Aber obwohl man sicherlich keine extreme Rivalität mit den Freunden seines Freundes beginnt, muss eine solche Überschneidung natürlich nicht zwangsläufig in eine Verbrüderung münden. So sind beispielsweise Atalanta und Ternana seit Jahrzehnten eng miteinander verschweißt, eine echte Freundschaft zwischen den ebenfalls mit Bergamo verbündeten Fans aus Caserta wollte trotzdem nie entstehen. In dem Fall toleriert man sich so gut es geht.

Leider ist die große Zeit der Fanfreundschaften in Italien vorbei. Generationenwechsel, die Auflösung historischer Ultragruppen, Streitigkeiten über politische Fragen oder die Fankarte „Tessera del Tifoso“ beendeten viele, selbst Jahrzehnte andauernde, Freundschaften. Heute hört man viel häufiger das abwertende „Ja, das sind aber nur Einzelkontakte“, „Ja, das ist aber nur eine Freundschaft, keine Verbrüderung“ und so richtig ernst genommen werden nur die wenigen Verbrüderungen, die seit vielen Jahrzehnten bestehen. Zu viel Energie wird durch andere Schwierigkeiten aufgesogen, die aktuelle Generation unterscheidet sich deutlich von ihren Vorgängern und alles wird auf kleinerer Flamme gekocht.

Bilder (alle Fotos mit freundlicher Genehmigung von SportPeople.net)

u.a. Hellas-Kaiserslautern,Hellas-Sampdoria,Novara-Rimini,Pescara-Vicenza, Pallavicino-Civitanovese (Playoff Eccellenza 2008-2009) mit Schickeria Bayern München, Sassuolo-Modena (Serie B 2011-2012) mit Red Kaos Grenoble, Modena-Avellino (Serie B 2013-2014) Banner für die Freunde aus Sevilla (nach dem Uefacup-Gewinn), Fano-Campobasso (Playoff serie D 2015-2016) mit Allentati Fasano, Modena-Ancona (serie C 2016-2017) Banner von Modena für die Freunde aus Venezia (wegen der Geschichte mit Parma), Mantova-Parma (serie C 2016-2017) mit Bordeaux…

Eine Antwort auf „Verbrüderungen“

[…] Die ehrwürdigen „Freak Brothers“ Ternana, verloren ihr bestes Stück an Perugia, als ihr Reisebus von Perugia von der Autobahn gedrängt wurde und machten natürlich trotzdem weiter.  Auch die großartige „Fossa dei Grifoni“ aus Genua verlor eine ganze Ladung Fanutensilien, als ihr Bus sich verfuhr und in einen Hinterhalt von Foggia geriet. Die „Fossa“ erklärte ihr Ende erst lange später und aus ganz anderen Gründen, aber zwischen Foggia und Sampdoria entstand wegen des Zwischenfalls eine schöne Verbrüderung. […]