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Post aus Wuhania

„Wir glaubten, wir hätten furchtbare Probleme. Wie sollten wir wissen, dass wir glücklich waren?“

Margaret Atwood, Der Report der Magd

Wie jeden Samstag war ich einkaufen. Schlüssel, Portemonnaie, Einkaufstaschen, Handy, Zigaretten, Feuerzeug, Selbstbescheinigung. Die Selbstbescheinigung muss man auf einem Formular des Innenministeriums ausfüllen, bevor man das Haus verlässt: Adressdaten, Telefonnummer und der Grund, aus welchem wichtigen Grund ich mich auf den Straßen aufhalte. Der Einkauf von Lebensmitteln gehört neben beruflichen Verpflichtungen und medizinischen Notwendigkeiten noch dazu. Die sonst am Wochenende perfekt zusammengestaute Uferstraße meines Städtchens am Lago Maggiore ist weitgehend menschenleer, wenn man die an jeder Ecke mit ihren Atemschutzmasken stehenden Carabinieri ignoriert. Gleich drei Streifenwagen beleuchten die gespenstische Szenerie vor dem Supermarkt mit ihrem bleich blauen Blinken.

Ich und meine Freundin trennen uns am Eingang, denn pro Familie darf nur eine Person hinein. Das sonst übliche Hintergrundgedudel ist still, dafür erinnern in Abständen von gefühlt einer Minute Durchsagen, wie der Einkauf vonstatten gehen soll: Abstand halten! Nur ein Familienmitglied! Wenigstens gibt es hier keine kilometerlangen Schlangen. Die Hälfte der schweigend durch die Gänge huschenden Gestalten trägt Atemschutzmasken, das Verkaufspersonal würde sowieso als Krankenschwestern durchgehen. Ich habe das beklemmende Gefühl, dass die Leute sich nicht nur quasi angeekelt ausweichen, niemand hebt auch nur den Blick, um den anderen anzusehen. Hier, wo mein Problem bis vor einer Woche noch war, dass sich umarmende und Küsschen verteilende Horden die Gänge versperren. Hier, wo mich die ältere Dame mit ihrer labbrigen Papiermaske mit einem Blick auf den Bart straft, als hätte ich Lepra.

Ab und zu treffe ich meine Freundin in den Gängen und wir versuchen, uns über den Einkauf zu verständigen. Seit fünf Jahren sind wir ein perfekt geöltes Einkaufsteam, aber die improvisierte Trennung sorgt dafür, dass wir Zuhause feststellen sollten, dass wir jede Menge Mürbeteig haben, dafür niemand an Eier oder Hundefutter gedacht hat. Wir müssen uns alle erst an den Virus gewöhnen. Niemand von uns hat Lust, noch einen Abstecher ins Zentrum zu machen, um Geld abzuheben. Dort wäre heute normalerweise Markt und tausende Einwohner, Touristen und Besucher aus der nahen Schweiz hätten alles geflutet. Den Anblick der verwaisten Piazza würde heute keiner ertragen wollen, darauf verständigen wir wortlos, als ich die Brieftasche auf Geldscheine durchsuche. Für zwei Stangen Zigaretten würde es reichen. Man weiß ja nie.

Die resolute Dame im Tabaklädchen hat die Situation unter Kontrolle. Mit energischen Gesten manövriert sie die drei Kunden im vorgeschriebenen Abstand durch ihren Kiosk. „Du kannst mir sagen was Du brauchst, er hier packt schnell seine Sachen zusammen und geht dann nach da weg“, wobei sie „da“ mit einer Feldherrengeste Richtung Tür unterstreicht. Da draußen hält in dem Moment ein Leichenwagen und vier Sargträger in dunklen Anzügen und mit Atemschutzmasken steigen aus. Ich desinfiziere mir die Hände und wir fahren schweigend zurück nach Hause. Nicht „obenrum“, über die Hügel wie sonst, um dem Urlauberstau zu umgehen, sondern bequem durch die Stadt, vorbei an weiteren zwei Kontrollposten der Carabinieri.

Kein einziges Segel auf der trügerisch glitzernden Oberfläche des Sees. Kein Kondensstreifen der sonst im nahen Mailänder Flughafen Malpensa startenden oder landenden Flugzeuge. Keine fremden Autokennzeichen. Keine Stühle oder Menschen vor den Bars an diesem sommerlich anmutenden Wochenende mit fast 20 Grad. Über allem eine wattierte Stille, wie ich sie sonst nur von Schneefallabenden kenne. Nicht, dass dieser spießige Flecken am Lago sich durch besonderen Trubel ausgezeichnet hätte, aber in diesen Tagen der Schockstarre machen meine italienischen Nachbarn nicht den Lärm, den sie sonst so ausgeiebig und liebenswert betreiben. Keine Rasenmäher, keine Fadensensen, keine Bohrmaschinen. Ich finde es großartig, dass Italien sich jeden Abend auf dem Balkon versammelt, um gemeinsam gegen die Angst anzusingen. Ich würde mich freuen, wenn alle sofort anfangen würden, jeden erdenklichen Lärm zu schlagen mit Allem, was zur Verfügung steht. Denn diese Stille bringt dich um.

Ich schließe die Tür und steige die drei Meter Treppe hinauf. „Ich möchte da nie wieder rausgehen.“ „Ich auch nicht.“

„Sie machte sich Gedanken darüber, wie man sich keine Gedanken macht.“

Margaret Atwood, Der Report der Magd

Bis gestern 18 Uhr wurden in Italien 24.747 Personen positiv getestet, aktuell sind 20.603 erkrankt, 2335 Menschen geheilt und 1809 verstorben.