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Es gibt wichtigeres als Fußball

Gestern Nachmittag verbrachte ich die seltsamste halbe Stunde in einem Fußballstadion. Im Auto gemeinsam mit Freunden, auf der regenverhangenen Autobahn in Richtung San Siro, hörten wir die Radioübertragung der Spiele der Serie B. In hektischen Schalten zwischen dem Stadion von Pescara und dem Studio der RAI trat das sonstige Spielgeschehen der zweiten Liga in den Hintergrund. Beim Stand von 0:2 in der Begegnung Pescara – Livorno war der Spieler der Amaranti, Piermario Morosini, abseits des Spielgeschehens zusammengebrochen, hatte noch zweimal versucht, sich wieder aufzurichten, und war dann unter Konvulsionen auf dem Rasen liegen geblieben. Vor dem Hintergrund eines Stadions in Schockstarre versuchten die Mediziner sofort eine Wiederbelebung mit Herzdruckmassage und allen Möglichkeiten, die in Pescara verfügbar waren. Auf dem Parkplatz des Mailänder Stadions erreichte uns noch die Notiz, dass dem Spieler im Krankenhaus noch ein Herzschrittmacher eingesetzt und er in ein pharmakologisches Koma versetzt wurde.

Er lebt, er liegt auf der Intensivstation, Spezialisten werden sich kümmern. Wirklich schade. Und so jung. Hoffentlich kann er bald wieder spielen. Antonio Cassano hatte ja schließlich auch am letzten Wochenende seine ersten 10 Minuten nach seinem Hirnschlag und dem operativen Verschluss eines Loches zwischen den beiden Herzkammern wieder auf dem Platz verbracht. Unser aller Rino Gattuso auch, obwohl er noch vor ein paar Wochen doppelt sah und überhaupt an Marty Feldman erinnerte. Und Fabrice Muamba, um ein Haar dem Tod von der Schippe gesprungen, hatte ja sich ja auch gerade mit einer Torte beim Klinikpersonal bedankt. Die moderne Medizin vollführt Wunder. Außerdem sind Fußballspieler ja bestens überwacht, jung und austrainiert. Egal. Scheiß-Genoa.

Minutenlanger Aufstieg durch die Spiralrampe in den 3. Oberrang des San Siro. Hervorragende Plätze. Die Mannschaften bereits beim Aufwärmen. Und nach dem Spiel wollten wir sowieso Kevin-Prince Boateng treffen. Noch 20 Minuten? Geht bald los. Da abstiegsbedrohte Genoa werden wir schon packen. Und vielleicht klappt’s ja auch noch mit der Meisterschaft. Spielt Maxi Lopez? Mist, Seedorf macht sich auch warm. Ein paar chinesische Touristen in Original-Fanartikeln für mehrere hundert Euro suchen ihre Plätze. Haha, da unten vor der Glasscheibe, da sieht man ja gar nichts.

Eine Lautsprecherdurchsage. Nicht ungewöhnlich, vor Anpfiff wird einem ja alles mögliche kommuniziert: Der kleine Paolo möchte von seinen Eltern abgeholt werden. Der Wagen mit dem amtlichen Kennzeichen MI-12345 versperrt die Feuerwehrzufahrt. Das Abbrennen von Pyrotechnik ist untersagt. Bitte beachten sie das Rauchverbot. „Als Zeichen der Trauer um den tragischen Tod des Fußballspielers Morosini vom AS Livorno hat die FIGC entschieden, dass der Spieltag abgesagt wird.“ Ach Mensch, Scheiße, tot? Bleierne Stille im Stadion. Kaum jemand sagt etwas. Spieler und Betreuer stehen in Grüppchen auf dem Rasen, der in ein paar Minuten zum üblichen Schlachtfeld werden sollte. Scheiß Genoani! Hurensöhne! Scheiß-Millionäre! Wie kann man auch gegen die Fiorentina verlieren?

Nicht von alledem. Das Publikum macht sich zögernd auf den Weg. Die chinesischen Touristen schauen entgeistert den Menschen nach, die ihre Plätze verlassen. Aus den Resten der Curva Sud, direkt unter uns, starten ein paar verhaltene Sprechchöre. „Gabriele con noi!“ Wegen Gabriele Sandri wurde ja der Spieltag schließlich auch nicht abgesagt. Ultràs, Tote zweiter Klasse! Ist mir egal, die Kurve ist sowieso nicht zu hören. Und für einen toten Mittzwanziger ist es vermutlich auch gleichgültig, ob er erster oder zweiter Klasse eingeäschert wird. Spätestens in zwei Wochen wird die Show weitergehen. Muss sie ja.

Der Spieltag wird nachgeholt, nächste Woche oder so. In der Zwischenzeit werden Mitspieler, Trainer, Masseure und Freunde berichten, was für ein goldenes Herz Morosini hatte, wie er immer für jeden da war, wie das Schicksal seiner Familie ihm Stärke verliehen hatte. Beide Eltern hatte er früh verloren. Seine behinderte Schwester hatte sich in einem Depressionsschub selbst getötet. Auch sein Bruder ist behindert. Und er ist jetzt auch tot.

Ciao Piermario.

5 Antworten auf „Es gibt wichtigeres als Fußball“

Es gibt wichtigeres als Fußball…

Gestern Nachmittag verbrachte ich die seltsamste halbe Stunde in einem Fußballstadion. Im Auto gemeinsam mit Freunden, auf der regenverhangenen Autobahn in Richtung San Siro, hörten wir die Radioübertragung der Spiele der Serie B. In hektischen Schalte…