Die aktuellen Zahlen vermelden einen Rückgang der Dauerkartenverkäufe für die Stadien der Serie A von 50.000, die durchschnittliche Stadionauslastung sank letzte Saison auf 56,6 % – weit entfernt von der Situation der deutschen Bundesliga (96%), der englischen Premier League (95%), Frankreich (70%) oder Spanien (68%). Der AC Milan beispielsweise, der vor nur 10 Jahren mit mehr als 60.000 verkauften Abonnements allein das San Siro zu drei Vierteln füllen konnte, legte für die abgelaufene Spielzeit einen absoluten Negativrekord von 23.500 Dauerkarten hin; für die am Wochenende startende neue Saison liegt die offiziöse Zahl bei 16.000. Desolate Stadien, Wirtschaftskrise, Jugendarbeitslosigkeit und Abwanderung der Stars würden in der Wirtschaft vermutlich zu Preissenkungen führen, in Italien versucht man mit steigenden Preisen, dem Problem auf der Einnahmenseite Herr zu werden: Juventus (+6,9%), Fiorentina (+6%), Milan (+5,5%), Roma (+4,5%)…
Auch unabhängig von den Zuschauerzahlen sieht die wirtschaftliche Lage vieler Vereine nicht eben rosig aus: Cesena, Fiorentina, Genoa, Lazio, Palermo, Roma und Sampdoria haben Stand heute noch keinen Trikotsponsor für die neue Saison. Der Sponsor der Serie B, der Sportwettenanbieter Eurobet, hat sein Engagement aufgekündigt, so dass die Serie B einstweilen einfach „Serie B“ heißt. Als Begründung ließ das Unternehmen verlauten, dass man sich nicht in einer Liga engagieren möchte, bei der Ende August weder die Zahl der Teilnehmer noch die tatsächlichen Termine feststünden. Aufgrund einer Klage des sportlich abgestiegenen Novara auf ein Nachrücken an die Stelle des insolventen Padova (auch Siena ist pleite) ist die Saisonplanung bis zu einer endgültigen Entscheidung im Moment komplett auf Sand gebaut. Dies wirkt sich selbstverständlich auch auf die darunter liegende „Lega Pro“ aus, deren Zusammensetzung und Terminierung aktuell nur aus dem Kaffeesatz abzuleiten wären. Egal, irgendwann wird schon gespielt.
Was tut man also in einer solchen Situation? Richtig, der Ministerrat setzt sich zusammen und entwirft neue Anti-Gewaltgesetze in der Überzeugung – zumindest wird das so vermittelt -, dass wenn man die Ultrà s aus den Stadien entfernen würde, diese sich dann ohne weiteres Zutun mit glücklichen Familien mit Kindern füllen mögen. Nach dem Tod des Napoli-Fans Ciro Esposito beim letzten Pokalfinale in Rom entwarf Innenminister Alfano das Dekret 119/14. Zu den für die neue Saison geltenden Normen, die ich Anfang Juni kurz angerissen hatte, verheißen – unter Anderem – das Folgende:
- Ein Stadionverbot kann nicht nur für Vergehen im Umfeld von Fußballspielen verhängt werden, sondern auch wegen fußballunabhängiger Anzeigen oder Verurteilungen wegen Verstößen gegen die öffentliche Ordnung oder „generell gewalttätigem Verhalten“. Der Gesetzestext gibt es also her, dass man ein Stadionverbot erhält, weil man irgendwo wegen irgendetwas angezeigt wird. Die Verhängung eines Stadionverbots liegt in der Verantwortung des örtlichen Polizeichefs und kann 1-5 Jahre Laufzeit haben, eine Anhörung des Beschuldigten ist nicht vorgesehen.
- Ab sofort können Fangruppen geschlossen mit einem Stadionverbot belegt werden. Das wurde zwar auch vorher schon so gehandhabt, jetzt gibt es aber auch eine rechtliche Grundlage dafür. Ausdrücklich wird erwähnt, dass dies auch wegen im Ausland begangenen Übertretungen geschehen kann. In einem solchen Fall wird dem Capo der Gruppe automatisch ein Stadionverbot von mindestens 3 Jahren zugeteilt.
- Für Wiederholungs“täter“ („Täter“ steht in Anführungsstrichen, weil eine Anschuldigung reicht, das Stadionverbot gilt auch, wenn es zu keinem Urteil oder einem Freispruch kommt) ist ein mindestens 5-jähriges und höchstens 8-jähriges Stadionverbot vorgesehen. Das klingt übel, stellt aber auch nur eine nachträgliche Legitimierung der bisherigen Praxis dar, bei denen Fans entweder nacheinander einzelne Stadionverbote erhielten oder gleich 10 Jahre ohne jegliche gesetzliche Grundlage.
- Gegenüber eben jenen Wiederholungstätern wird nun auch das Instrument der „besonderen Überwachung“ (sorveglianza speziale) angewandt, das bislang Mitgliedern der Mafia oder terroristischen Vereinigungen vorbehalten war. Das entsprechende Gesetz aus dem Jahr 1956 steht trotz mehrfacher Änderungen unter reger Kritik wegen Verstößen gegen die Europäische Menschenrechtskonvention. Hierunter können bspw. ein Verbot fallen, die Heimatgemeinde zu verlassen, die Pflicht, zu bestimmten Tageszeiten Zuhause zu bleiben, oder eine Unterschriftspflicht bei den Polizeibehörden.
- Ein Stadionverbot kann u.a. verhängt werden für das Einbringen von Material mit „Text oder Bild“ ins Stadion, das „zur Gewalt aufruft“. Die Entscheidung darüber, ob ein „Text oder Bild“ zur Gewalt aufruft obliegt dem örtlichen Polizeichef. Auch hier kann man eine seltsame Vermischung von gesetzgebender und ausführender Gewalt beobachten.
- „Gealttätige Fanlager“ können nun mit einem Auswärtsverbot von bis zu 2 Jahren bestraft werden.
Soweit die wichtigsten Änderungen, von denen sich der Gesetzgeber erhofft, endlich das Publikum die Gewalt restlos aus den italienischen Stadien zu entfernen. Meine Meinung zur Sinnhaftigkeit dieser Maßnahmen hatte ich bereits geschrieben. Interessanter wird es, wenn man sich anschaut, wie es mit den Gewaltepisoden denn nun tatsächlich aussieht:
In den letzten 8 Jahren sanken in den italienischen Profiligen (Serie A, B, Lega Pro) die Auseinandersetzungen mit Verletzten um 60,1%, die Polizeikräfte verzeichneten dabei 85% weniger Verletzte, die Stadionbesucher 63,5% weniger. Letzte Saison wurden 59 Spiele gezählt, bei denen es Auseinandersetzungen gab – das sind 3% der ca. 2.000 durchgeführten Spiele. Dabei wurden 69 Fans verletzt. Die Zahlen liegen ca. 8-fach unter denen des deutschen Fußballs und 5-fach unterhalb denen des englischen. Die 69 verletzten Fans entsprechen einem von 173.000 Zuschauern (England 1 zu 37.000, Deutschland 1 zu 26.000). Trotzdem ist die Zahl der ausgesprochenen Stadionverbote in der letzten Saison um 28.8% gegenüber der Vorsaison gestiegen (2.352 Stadionverbote). Ins Auge sticht dabei die Zunahme der „präventiven Stadionverbote“ (also bevor etwas passiert) um 111,6% gegenüber der Saison 2013/14.
Weniger Zuschauer, weniger Gewalt, mehr Repression. Ich hoffe, der nächste deutsche Innenminister, der von „italienischen Verhältnissen“ krakeelt, hat die Zahlen zur Hand. In Italien ist derweil der 72-jährige, mehrfach vorbestrafte, Carlo Tavecchio zum Vorsitzenden des FIGC berufen worden, der sich erst kürzlich darüber echauffierte, dass irgendwelche „Opti Pobas“ gestern noch „Bananen gegessen“ hätten und nun in italienischen Mannschaften Stammspieler seien. Keine Angst Carlo, das bringst du auch noch in Ordnung.
11 Antworten auf „Weniger Zuschauer, weniger Gewalt, mehr Repression“
[…] hat der italienische Fußball mehr als eine Million Stadionbesucher pro Saison verloren. Auch Gewaltepisoden gingen zurück, allerdings statistisch nicht größer als die sinkenden Stadionbesuche insgesamt erwarten […]
[…] zwei Spieltage hinter sich gebracht, bestätigt aber schon einen Trend der letzten Jahre: Es geht niemand mehr hin. Die Ursachen sind vielfältig, sicherlich ist die „Repression“ nicht die alleinige […]
[…] Verglichen mit den Hochzeiten von Ultra in den 80er und 90er Jahren sehen wir im Moment natürlich viel weniger Menschen in italienischen Stadien, die Kurven machen da keine Ausnahme. Ohne die vielen Beispiele klein zu reden, wo sich äußerst engagierte Einzelpersonen und Gruppen durchaus mit Erfolg bemühen, die Tradition am Leben zu erhalten, bleibt festzuhalten, dass es heute eben nicht mehr so ist, dass man irgendein zufälliges Spiel besuchen kann, um das typische Flair überfüllter Blöcke mit lautstarkem Support, Unmengen an Fahnen und Pyrotechnik zu erleben. Die Gründe dafür sind mannigfaltig: Die Wirtschaftskrise sorgt bei hoher Jugendarbeitslosigkeit und hohen Ticketpreisen neben dem erwartbaren qualitativen Schwund der Liga für niedrigere Zuschauerzahlen in den alten, teils eher baufälligen Stadien. Eine Reihe von Korruptions-, Manipulations-, Wett- und Dopingskandalen hat die sprichwörtliche Leidenschaft der Italiener für ihren Sport durchaus erkalten lassen. Generationswechsel, Bürokratie, Repression und billige Pay-TV-Angebote sorgen dann in der Summe für die aktuellen Zuschauerzahlen. […]
[…] Heute, wo die Bescherung angerichtet ist, sieht das alles viel schwieriger aus – zwischen der großen Flucht aus den Stadien und der totalen Anpassung des Durchschnittsitalieners, schon zu betäubt von den fehlerfrei […]
[…] in Rom wirklich wichtigeres zu tun haben. Völlig absurd wird es, wenn die Digos darum bettelt, wieder ins Stadion zu kommen. Die wissen, dass sie ihren Job […]
[…] Freunden, die alle denselben Traum verfolgen. Aber vielleicht ist es ja genau das, was sie wollen: Leere Stadien und […]
[…] Weniger Zuschauer, weniger Gewalt, mehr Repression […]
ja, nach esposito war ja erstmal sommerpause. 🙂 natürlich ist jeder verletzte oder gar tote einer zuviel, aber eine „0“ bei verletzten wird es niemals geben. in keinem gesellschaftlichen zusammenhang, vom straßenverkehr bis zum besuch des freibads. vor diesem hintergrund sind die statistiken dann vielleicht doch aussagekräftig.
ich wollte die entwicklung keinesfalls schlecht reden, jedoch ist jeder tote, egal ob von aktiven fans, von fans die seit 10 jahren nicht mehr ins stadion gehen oder von polizisten getötet, einer zu viel (Licursi, Raciti, Sandri, Esposito…ich hoffe die liste hat nach esposito ein ende genommen)
möchtest du die tat eines menschen, der seit 10 jahren kein stadion betreten hat und dessen team am entsprechenden tag überhaupt nicht beteiligt war in die statistik „auseinandersetzungen unter fangruppen“ einbeziehen? oder mit den zitierten maßnahmen verhindern? bitte, nur zu, denk dir einfach ein umrechnungsverhältnis aus…ist ein freies land.
und wieviele tote? wieviel zählt ein menschenleben in italien gegenüber verletzten?