Ein Gastbeitrag von Christian Staffler.
Tolói, der bereits mit 13 Jahren von zuhause auszog um Fußballprofi zu werden, galt in Brasilien schon in jungen Jahren als großes Talent. Für die Jugendteams der Seleção hat der Verteidiger 19 Länderspiele bestritten. Im Alter von 18 Jahren debütierte er 2009 für Hèlio dos Anjos in der brasilianischen Sèrie A. Fünf Jahre später zog es ihn in eine andere Serie A, jene in Italien. Als Winter-Neuzugang für lediglich sechs Monate ausgeliehen, konnte er sich bei der AS Roma nicht gegen Mehdi Benatia und seinen Landsmann Leandro Castà n (er war zu jener Zeit einer der besten Innenverteidiger in Italien, ehe eine Gehirn-OP seine Karriere stoppte) durchsetzen. Bemerkenswert: Alle vier Spiele, in denen Tolói für Benatia von Anfang an spielte, gewann die Roma. Für das Ziehen der Kaufoption war es den Römern trotzdem zu wenig. Weil er unbedingt in Italien bleiben wollte, zog er weiter in den Norden und schloss sich für eine kolportierte Ablöse von rund 3,5 Millionen Euro Atalanta an.
Sein erster Trainer in Bergamo war Edy Reja, der mittlerweile Nationaltrainer von Albanien ist. Die Leistungen waren solide, auch wenn ihm Reja zu Beginn eher die Peitsche („Er hat großartige Qualitäten, ist aber viel zu fehlerhaft. Das mag in Brasilien gehen, nicht aber in Italien.“) als das Zuckerbrot anbot. So richtig explodiert ist Tolói ein Jahr später, unter Rejas Nachfolger: Gian Piero Gasperini. Der „stile Gasp“ ist dem Brasilianer, der aufgrund italienischer Urgroßeltern auch für die Squadra Azzurra spielen dürfte, wie auf den Leib geschneidert.
Trotz seiner, für einen Innenverteidiger geringen Körpergröße (1,85 Meter), ist Tolói ein begnadeter Zweikämpfer. Er ist nicht der Kopfballstärkste und auch nicht sehr elegant. Dafür stark am Mann, spielerisch hervorragend und sehr antizipativ in seiner Charakteristik. Das birgt einige Risiken, weil Tolói nicht besonders schnell ist und er bei verlorenen Abfangmanövern dem Gegner nur schwer hinterherkommt. Das fällt bei Atalanta aber kaum ins Gewicht, zumal Tolói ein herausragendes Timing bei seinen Aktionen zeigt und im Fall der Fälle gut abgesichert wird. Gasperini fordert von seinen Abwehrspielern aktives und mutiges „Nach-Vorne-Verteidigen“, das zudem sehr mannorientiert praktiziert wird – und genau hier liegen die Stärken von Tolói.
Vor allem wenn es darum geht, Angreifer bis tief in die eigene Hälfte zu verfolgen, kann Tolói glänzen. Selbst wenn er den Ball nicht direkt gewinnt, bringt der den Angreifer aus der Balance bzw. stört ihn entscheidend, was wiederum seinen Mitspielern bei der Balleroberung hilft. Die oft wild wirkende Art von Tolói ist auch im Gegenpressing von Atalanta ein wichtiger Trumpf. Fängt Tolói den Ball hingegen direkt ab (was sehr oft der Fall ist), sticht er nicht selten schnell in die Offensive. Dabei agiert er fast wie ein Außenverteidiger und vorder- oder hinterläuft situativ den Wingback oder sogar den Flügelstürmer. Ist Atalanta im Angriff, steht Tolói gerne im offensiven (!) Halbraum und ist hierbei eine Waffe. Das ist nicht nur bei schnellen Spielverlagerungen nützlich, denn der Brasilianer ist extrem spielstark: 0,7 Keypässe (pro 90 Minuten) sind der beste Wert aller Serie-A-Innenverteidiger, genauso wie seine 6 Assists.
Seit Gasperini das Ruder bei Atalanta übernommen hat, ist Tolói zu einem Topverteidiger der Serie A gereift. Die Dreierkette hilft ihm in seiner Spielweise enorm. Sein aggressives und weiträumiges Herausrücken, das in einer Viererkette zu großen Lücken führen würde, ist bei Atalanta hervorragend abgesichert. In den letzten beiden Jahren hat sich Tolói allerdings auch in der Strafraum-Verteidigung stark verbessert. Was an Tolói zudem auffällt: Er ist stets extrem konzentriert (eine unterschätzte, weil nicht sichtbare, Fähigkeit) und fokussiert, das Timing ist hervorragend. Dadurch kommt er fast ohne Fouls aus (1,0 pro 90 Minuten). Tolói ist ein Meister der Defensivfeinheiten geworden, Fehler passieren ihm so gut wie nie.
War Tolói ein Glücksgriff für Atalanta, so war es umgekehrt genauso. Es gibt wenige Trainer im europäischen Spitzenfußball, unter denen der Brasilianer so glänzen könnte, wie es unter Gasperini der Fall ist. Und im Gegenzug: Hätte sich der 62-Jährigen einen Verteidiger malen können, wäre wohl Rafael Tolói dabei herausgekommen.