Pelle schaute auf seine Hände. Die Werkstattschmiere schien sich auch nach Jahren noch unter den Fingernägeln festgebrannt zu haben. Kriegste nicht wieder weg. Ein paar Sekunden ruhte sein Blick auf dem Tattoo, das ihm ein Kollege damals mit der Stopfnadel gestochen hatte. „Helga“. Helga war eine gute Frau. Die beste, die es ein paar Jahre mit ihm ausgehalten hatte. Irgendwann war Helga nicht mehr aufgewacht. Die Freunde aus dem Lötzekeller waren alle gekommen, um sie verabschieden. Sogar eine Flasche von dem Kirschlikör hatten sie ihr mit reingelegt. Geheult hatte er wie damals beim Abstieg. Abstiege kamen später noch andere hinzu, aber der erste war am schlimmsten. Weil alle dachten, dass die Welt untergehen würde. Dass es niemals mehr wie früher werden würde. Eine Kippe wäre jetzt gut. Aber erst noch weiter hoch. Ruhig, eine Hand nach der anderen an die nachtkalte, feuchte Stahlleiter setzen. Jetzt abrutschen wäre bekloppt.
Es ist ja nicht so, dass es nicht auch schöne Momente gab. Wenn er sich kurz vor Spielende vorn ans Geländer vor seine Tribüne stellte und seinen ganz persönlichen Schlachtruf anstimmte, dann antworteten alle. Inzwischen war er aus der Zeit gefallen, im Block nebenan hatten sich junge Leute breitgemacht. In Kapuzenpullis und mit Fahnen. Die sangen auch andere Lieder und manchmal kam es ihm so vor, als schauten sie ihn mitleidig an. Das waren aber gute Leute, die waren auch immer da, wenn der Verein spielte. So wie Pelle. Manchmal warfen sie ihm auch eine Bierdose rüber und wenn er vor ans Geländer ging, immer kurz vor Abpfiff, dann waren sie kurz leise. Irgendwie fand er auch ungerecht, dass ganze Polizeitruppen vor dem Stadion auf sie warteten. Die wollten doch nur Fußball gucken, singen, ein paar Biere trinken. Als Pelle jung war, hatte sich doch auch niemand dafür interessiert, wenn es nach dem Spiel nochmal auf die Mütze gab mit denen aus E.
Hoch, weiter hoch. Völlig bekloppte Idee, die mit dem Flutlichtmasten im alten Stadion. Gespielt wird hier schon lange nicht mehr, höchstens die Jugendmannschaft noch manchmal. Oder ein Fanturnier. Da hatte Pelle auch immer mitgemacht, solange bis sein Knie ausstieg. Aber damals, gegen die Zecken vom Kannestieg, da ließ er zwei von denen aussteigen und knallte das Ding unten rechts rein. Alle wollten ihm damals Bier ausgeben, alle! Und von hier oben, nachts, sah alles noch so aus wie immer. Nur die Farbe müsste mal jemand erneuern, blättert ja schon alles ab. Damals, als er noch die Sitzschalen geputzt hat, weil er sich den Eintritt nicht mehr leisten konnte, wäre sowas nicht passiert. Zum Hausmeister wäre er gegangen und hätte ihm Bescheid gegeben! Aber der war ja auch schon lange im Altersheim. Manchmal ging Pelle ihn sogar besuchen, auch wenn der ihn schon lange nicht mehr erkannte.
Seine Mannschaft spielte jetzt in der neuen Arena, weit draußen, an der Ausfahrt. Schickes Ding, alles sauber und modern, bunte Anzeigetafeln und ein Dach über allen Tribünen. Bier im Plastikbecher und Stadionwurst für 4 Euro. Nicht mehr von Ilse, sondern so Studenten im Brauereipolo mit demselben mitleidigen Grinsen. „Bitte schön, der Herr.“ Pelle war am Anfang sogar mal hingegangen. Ist aber nicht seins. Wie ein Aussätziger kam er sich vor mit seiner geliebten Kutte. Niemand hatte so eine schöne Kutte wie Pelle, das haben immer alle gesagt. In der Arena hatte niemand mehr eine. Und er merkte schon, dass die Normalen auf den Tribünen ihn meinten, wenn sie die Köpfe zusammensteckten und lachten. Die würden niemals auf seinen Schlachtruf antworten, die kennen den ja nicht mal. Und wo waren die denn damals, als Matze Gruber die Mannschaft zum Pokalsieg schoss? Damals ’64. Die Jungen, die mit den Kapuzenpullis, die waren in Ordnung. Und sie hätten vermutlich auch noch ein Bier für ihn. Aber die sollen mal machen, sind gute Jungs. Das Herz für den Verein, irgendwie muss die Fackel ja weitergetragen werden.
Kippe wäre immer noch gut. Oben aber erst, ist ja keine Hand frei. Nächste Sprosse. Erst die rechte Hand, dann die linke, rechter Schuh, dann der linke. Wenn das Knie nur nicht so verdammt weh tun würde. Hatte ihm einer aus dem Keller eingetreten. Angeblich hatte er dessen Freundin angestarrt. Dabei hatte die ihn doch den ganzen Abend angemacht. Hatte ihm sogar ein Herzchen auf den Bierdeckel gemalt. Und das Vereinswappen, sah aber eher aus wie ein gebadeter Hund. Den Deckel hat er heute noch, steht der Bierhumpen von der Hundertjahrfeier drauf. Gab mächtig Ärger mit Helga deswegen, aber vermutlich war die sauer, weil er zu spät kam. Und vielleicht waren es auch ein paar Bierchen mehr als sonst; aber Hundertjahrfeier ist ja auch nicht ständig. Wer weiß, ob die neue Arena überhaupt solange stehen würde. Mit Kino und Konferenzzentrum, auch wenn die da „Cinema“ und „Conference Center“ heißen. Schnickschnack. Als Emme noch Präsident war, gab der seine Pressekonferenzen vorn am Wurststand. Ging auch. Hat ja eh nie jemand gelesen, wer sich für den Verein interessierte, war im Stadion.
Geschafft! Erstmal Kippe! Während Pelle sein Knie so stellte, wie es am wenigsten schmerzte glitt sein Blick über das Stadion unter ihm. Da hinten hatte er immer gestanden, sein ganzes Leben lang. In die Holzbänke hatte er als Schüler damals das Wappen geschnitzt. Die Jungs mit dem Kapuzenpullis hatten irgendwann die Stufen bunt angemalt, aber ansonsten war alles so wie immer. Da hinten, unter dem Sprecherturm, hatten sie damals immer gewartet, bis jemand die Spielergebnisse zusammentelefoniert hatte. Und wer kein Geld für Eintritt hatte, den hast du im Stadion immer an den nassen Hosenbeinen erkannt, weil der Fluss hinter der Gegengerade an einer Stelle so flach war, dass man durchlaufen konnte. „Was’n los, Pelle, warste wieder angeln?“ Aber wenn das Wappen auf Olles Gips gemalt werden sollte, dann kamen wieder alle zu ihm. Weil er das am besten konnte. Helga hatte sich vermutlich in ihn verliebt, weil das Wappen im Lötzekeller über dem Fernseher von ihm war. Heute ist da ein Starbucks drin. Da kann man auf dem Telefon schauen, wie es gerade steht, hatten sie ihm erzählt. „Kannste trotzdem nicht vergleichen mit dem echten Keller“, dachte Pelle, während er die Kippe schnipste und sein Blick der langsam kleiner werdenden Glut nach unten folgte. Ohne Luft würden ein Kasten Bier und die Kippe genauso schnell runterfallen, hatte Bodo, den alle nur „Professor“ nannten, mal erklärt. Pelle hielt das für Quatsch. Und jetzt war es ja sowieso zu spät, das auszuprobieren. Die Schachtel hatte er unten liegen gelassen, im Trockenen, kann ja vielleicht noch jemand brauchen.
Hinter der alten Haupttribüne strahlten die Lichter des alten Güterhafens. Da hatten er und Helga das erste mal richtig geknutscht. ’72 war das, daran konnte er sich noch genau erinnern, weil das die Abstiegssaison war. Wochenlang lag bleierne Schwere über der Stadt und noch nie hatte er so viele Männer weinen sehen. Nicht mal, als sie die Gießerei zugemacht hatten in den 80ern. Zusammen mit Olle war er durch die alten Werkshallen geschlichen und sie hatten Lochstreifen gesammelt. Der Hausmeister hatte sich immer tierisch aufgeregt, weil er das ganze Zeug nach dem Spiel wieder zusammenfegen musste. Pelle musste lächeln. Als alter Mann das kaputte Knie nochmal auf den Flutlichtmasten zu hieven, die Kumpel wären bestimmt stolz auf ihn gewesen. Und ein bisschen hätten sie auch gelacht. So wie die Jungen wegen seiner Kutte. Aber das war seine Kutte, die schönste der ganzen Stadt. Und in dieses Stadion gehört sie hin, das schönste der ganzen Stadt. Die schnieke Arena da hinten an der Autobahn die heißt ja sogar jedes Jahr anders, gehen ja auch ganz andere Leute hin. Und für die Sitzschalen haben sie jetzt einen Reinigungsdienst, Pelle hatte extra gefragt in der Geschäftsstelle. „Wir können da leider gar nichts für sie tun.“ Aus Rache hatte er ihnen beim Rausgehen in den Gummibaum gespuckt, aber sein Ärger war schon lange verflogen. Irgendwie muss es ja weiter gehen und man spielte jetzt in der Zweiten oben mit. Der Torschützenkönig war sogar vom Stadtrivalen gewechselt. Der wäre aber sowieso nicht in den Keller gekommen zum feiern, bei dem Auto, das der hat. Nichtmal der Chef von der Gießerei damals konnte sich so was leisten.
Wieder unten greift Pelle in die Nische und steckt die halbe Schachtel in die Westentasche. „Hätte sowieso keiner gefunden.“ Konsequenz ist was für junge Leute. Die haben heute keine langen Haare mehr, aber „Halbstarke“ sind es trotzdem. So wie er damals, aber das glauben die ihm ja eh nicht. Als er sich durch den Spalt in der alten Einfahrt zwängte, zog er sich eine breite Rostspur über das „Hier regiert“. Helga hätte ihm einen ihrer stundenlangen Vorträge gehalten, aber Harro war das egal. Der alte Harro schlurfte ihm müde entgegen, als er in den Flur tritt und den vergilbten Lichtschalter beim ersten mal traf. Mit einem kaum spürbaren Nicken aus trüben Augen grüßte ihn der alte Köter. Die leere Bierdose stellte Pelle sauber in die Reihe auf die Schrankwand neben die anderen. Genau neben das alte Bild von ihm und Wulle vor der Vereinsfahne. Hatte ihm die Kollegen aus dem Keller damals geschenkt, in Farbe. Wulle war der beste Stürmer, den der Verein jemals hatte. Der konnte alles, rechts, links, mit dem Kopf… blöde Sache damals, mit dem Motorradunfall. Er dachte erst, seine Kumpels würden ihn veralbern, als sie ihm beim Frühstücksbier in der Gießerei davon erzählten. Im Rahmen steckte noch die Karte vom Aufstiegsspiel in der neuen Arena, die sie ihm letztes Jahr geschenkt hatten. Er war nicht hingegangen, war nicht sein Ding. Aber morgen früh würde er sich mal wieder ein frisches Mettbrötchen machen. So wie Helga damals. Ganz bestimmt.
2 Antworten auf „Pelles letztes Spiel“
[…] für “sein” Ritual fand ich so herzerwärmend, dass er mich zu einem Versuch einer Kurzgeschichte animierte. Mach ich ja sonst […]
[…] "sein" Ritual fand ich so herzerwärmend, dass er mich zu einem Versuch einer Kurzgeschichte animierte. Mach ich ja sonst […]