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Ultras. Über das Ergebnis hinaus.

Mitten im Lockdown bietet Netflix den Film „Über das Ergebnis hinaus“ an, den Debutfilm von Francesco Lettieri. Offensichtlich war dem deutschen Netflix der Originaltitel „Ultras“ nicht ausführlich genug. Lettieri ist bekannt für seine Musikvideos, vor allem für „Liberato“, der auch den Soundtrack des Films bestreitet, daneben für „Calcutta“ und „Thegiornalisti“. Die Ästhetik der neapolitanischen Rap-Videos führt Lettieri in „Ultras“ fort. Es ist anzunehmen, dass sich Lettieri sehr bewusst war, dass es mit dem Thema des Films keine einfachen Applaus geben würde, weder von Seiten der Subkultur noch von denen des geneigten Kinopublikums. Zu komplex und widersprüchlich ist die Welt der Ultras in ihrem Inneren, zu groß mittlerweile die Gräben zur Mehrheitsgesellschaft.

„Ultras“ spielt in Neapel, der sicherlich fußballbeklopptesten Stadt im generell fußballbekloppten Italien, genauer in der fiktiven Gruppe „Apache“, Protagonist ist der 50-jährige Sandro, genannt „Mohicano“. Sandro ist Mitgründer und Capo der Gruppe sowie Vaterfigur für den 16-jährigen Angelo, einen Jugendlichen aus prekären Familienverhältnissen, der in der Gruppe und Sandro Halt und Orientierung findet. Angelos Bruder „Sasà“ hatte in einer Auseinandersetzung mit den Romanisti ein paar Jahre vor der Handlung sein Leben verloren. Der augenscheinliche Bezug auf den Tod von Ciro Esposito beim italienischen Pokalfinale 2014 sorgte für die größte Kritik in den neapolitanischen Szenen, weil das Andenken an Ciro nicht respektiert würde. Außerdem würde das Ansehen der Stadt beschmutzt. Mehr oder weniger dieselbe Kritik, die eigentlich bei jeder filmischen oder journalistischen Darstellung der Stadt hochkocht, „Gomorra“ blieb davon nicht verschont. Zum Thema Ciro schreibt der Regisseur in einer Stellungnahme auf Facebook:

„Die [Kritiken] von denen ich spreche, die schmerzhaftesten und unsinnigsten sind die, nach denen der Film eine Anspielung auf Ciro Esposito enthält, ein Junge, der nicht mehr unter uns ist. Mir zittern die Hände, wenn ich das hier schreibe, denn Personen, die nicht mehr unter uns weilen, müssen in Ruhe gelassen werden. […] Nach dem 20. März hatte manch einer die Klarheit, einen Schritt zurückzutreten und festzustellen, dass Sasà […] der im Film nur einmal als Murales auftaucht, der Ultra-Märtyrer ist, den jede Fanszene betrauert. Wir in Neapel haben Ciro und Sergio, Lazio hat Gabriele. Jede Szene von der Serie A bis hinunter in die Eccellenza hat ihren unschuldigen Toten und Sasà aus Ultras steht generell für alle und niemanden im Besonderen.“

Soweit, so nachvollziehbar. Tatsächlich jede Fanszene führt ihre Toten auf Bannern und Fahnen mit und lässt kein Jahr ohne Erinnerung an sie verstreichen. Da „Ultras“ in Neapel spielt, kam die Kritik aus Neapel. Hätte es Verweise auf einen getöteten Polizisten gegeben, würde die Kritik sicher aus Catania stammen. Der Schuss, den man in der finalen Schlüsselszene hört, ist denn auch vermutlich ein Hinweis auf Gabriele Sandri, den Lazio-Fan, der 2007 ohne weiteren Anlass von einem Polizisten erschossen wurde. Es ist aber eben auch nur ein Schuss, man hört ihn auch nur, Lettieri liefert keinen Namen, keine Bezüge, keine Interpretation und keine Ausschlachtung des Falles.

Überhaupt handelt es sich bei „Ultras“ natürlich nicht um einen Dokumentarfilm. Wer siffige Auswärtsfahrten, epische Schlachten und atemberaubende Choreos sucht, ist auf Youtube besser aufgehoben, ein paar hübsche Beispiele von historischen Aufnahmen bindet der Regisseur aber ein. Der Konflikt, den der Film aufzeigt, ist in der Tat ein anderer: ein Generationenkonflikt, zwischen „den Alten“ und „den Jungen“, wie ihn jede einzelne italienische Gruppe oder Kurve durchlebt und durchlebt.

Ein Generationenkonflikt, den Sandro auch in seiner eigenen Person auskämpft. Der jugendlich gescheitelte Grauhaarige trägt eine Jeansweste (mit der Südstaatenfahne, die aus dem Stadio San Paolo durchaus bekannt ist), die meine modebewusste Begleitung zur Reaktion „der zieht sich aber auch an wie ein 16-jähriger“ veranlasste. Die „Apache“ sind sein Leben, seine Brüder, sein Rückzugsraum, aber eventuell nicht mehr alles im Leben. Parallel durchlaufen die beiden Ebenen des Konflikts durch den ganzen Film. Auf der einen Seite Sandros, ja, Liebe als Metapher dafür, dass es da draußen ja eventuell tatsächlich noch ein Leben jenseits der Gruppe gibt. Schon aus seinen ersten ungelenken Anbahnungsversuchen kann man gut ablesen, dass er mit dem ganzen Romantikdings nicht wirklich große Erfahrungen hat. Wunderschön herausgearbeitet ist hierzu die Szene, als er seine Beflirtete endlich zum ersten Abendessen eingeladen hat, aber dummerweise die Brüder von den „Apache“ vor dem Auto stehen und selbstverständlich alls sich darüber lustig machen, dass er „ja jetzt verliebt“ sei. So wie das Leben mit 16 eben so ist.

Er ist aber 50 und derselbe Konflikt findet auch in seiner Gruppe selbst statt, so wie in allen anderen Kurven und Gruppen Italiens auch. Der „Mohicano“ trägt seine Südstaatenweste wie eine aus der Zeit gefallene Insignie, auch die restlichen Verweise führen in die Vergangenheit. Die Zaunfahne der fiktiven „Apache“, das Material, der verwendete Font erinnern durchaus an die „Fedayn E.A.M.“ Irgendwann taucht auch das Banner „Spirito Selvaggio“ („wilder Geist“) auf, das man als „Spirito Libero“ („freier Geist“) aus dem San Paolo kennt. Und mit viel gutem Willen hat der eine oder andere im symbolischen Apachen schon das Symbol der „Teste Matte“ erkannt. Eindeutig ist der Verweis, als die Gruppe die Hymne der „Vecchi Lions“ anstimmen lässt: „andai in Mozambico, mi sbucciai un dito…“

Dem gegenüber stehen die „Jungen“ der Gruppe, ordentlich frisiert und modisch in „Northface“, „Weekend Offender“, „Lyle Scott“ oder „CP Company“ gekleidet. „Pechegno“ und „Gabbiano“ stehen für die aktuelle Führungsriege, weil die Alten ja seit ewigen Zeiten Stadionverbot haben. Und so möchte die junge Generation sich „endlich wieder zeigen“, „mal wieder Chaos veranstalten“. Wut, Testosteron, Lust auf Selbstbestätigung und Achtung. Andere Mode, andere Mentalität, andere Prioritäten. Die einen wollen zum Höhepunkt des Films nach Rom fahren, für die anderen ist das eine grottenschlechte Idee. Dies findet seinen Höhepunkt im Finale in Rom, dem vermutlich bildgewaltigsten, aber erzählerisch schlechtesten Aspekt des Films.

Ohne etwas verraten zu wollen: Wenn sich Lettieri genauso vielschichtig und einfühlsam mit der tatsächlichen Stadionsituation auseinandergesetzt hätte, wie er es mit den Konfliktlinien Sandros, Angelos und der Gruppe getan hat, wäre sicherlich allen geholfen gewesen. So gerät die „Auswärtsfahrt“ nach Rom in koksbefüllten Lieferwagen zu einer extremisierten Darstellung der Klischees, die durch die öffentliche Meinung geistern, seit es Ultras gibt. Wobei auch die Ultras selbst in ihrer epischen Selbstbeweihräucherung und -glorifizierung selbst dazu beigetragen haben, dass es diese Klischees überhaupt gibt. Nun ja, „wer dabei war, weiß Bescheid“, im Film sieht mir das alles zu sehr nach „Gomorrha“ aus. Wer aus den dramatisierten Szenen aber schließt, dass alle Ultras oder gar alle Neapolitaner immer so sind, wie dargestellt, der sollte grundsätzlich nur Dokumentarfilme konsumieren.

Trotzdem halte ich „Ultras“ für keinen schlechten Film. Die italienische Subkultur der Ultras hat in den letzten fünf Jahrzehnten ein beachtliches Interesse in der Öffentlichkeit gefunden, das sich aber nur selten im Fernsehen gespiegelt hat. Ricky Tognazzis „Ultrà“ von 1991 ist ein gelungenes Beispiel, Stefano Calvagnas Machwerk „Ultrà. Blutiger Sonntag“ aus 2010 das schlimmste überhaupt. Der hier besprochene Film ist eine sinnvolle Möglichkeit, sich dem Thema zu nähern. Selbstverständlich gibt es immer Möglichkeit und Notwendigkeit von Kritik, sicherlich ist es auch nachvollziehbar, dass manche Ultras und manche Szenen ein kommerzielles Produkt über ihre Subkultur grundsätzlich ablehnen. Trotzdem hat Lettieri sichtbar eine gute Vorstellung von dem, wovon er redet. Die Bildsprache, mit der er Neapel und die Gruppe erzählt ist mächtig, die Charaktere sind nachvollziehbar, das Grummeln der jüngeren Mitglieder und die verschiedenen Ansichten sind es auch.

Ärgerlich ist, dass er das Potential hatte, ein sehr guter Film zu werden. Dafür hätte Lettieri aber die Fahrt nach Rom anders erzählen müssen, gern so genau, wie er sich der Beziehung zu Angelo widmet. Lettieri trifft aber keine Entscheidung, wo er selbst steht; ACAB war da viel viel überzeugender. Der Regisseur zwinkert aber lieber dem breiten Publikum zu: ein bisschen Polizeigewalt, ein bisschen Ultragewalt, die Drogen, die Messer und diese elende Lovestory. Weitgehend unaufgelöst. Wenn er stattdessen eine Entscheidung in den Film gebracht hätte, ob er selbst das denn nun gut oder schlecht findet, dann hätte er Rom auch glaubwürdig erzählen können und dann wäre es ein guter Film geworden, egal ob er sich auf die Seite der Polizei oder der Ultras geschlagen hätte.

Der Konflikt mit den „Jungen“ und Sandros Zweifel, ob die Gruppe denn nun immer noch „Alles“ sein muss oder ob „die Wohnung mit Blick aufs Meer“, von der er seit immer träumt, nicht auch wichtig sind, das macht der Film richtig gut.

In „Ultras“ gibt es keinen Drogendealer, keine Pistole und keinen Raubüberfall. Im Film gibt es Gewalt, es gibt Messer, es gibt Sex. Außerhalb des Films auch. Ich halte „Ultras“ für einen ernsthaft bemühten Film, der sich seinem Thema interessiert nähert. Ansonsten gilt das, was immer gilt: „Wenn man 20 Ultras dieselbe Frage zum selben Sachverhalt stellt, bekommt man 25 verschiedene Antworten.“ Ich kenne Schlechteres zum Thema.

Eine Antwort auf „Ultras. Über das Ergebnis hinaus.“

„Ärgerlich ist, dass er das Potential hatte, ein sehr guter Film zu werden.“ (inkl. der Beschreibung der Fahrt nach Rom)

100 Punkte! Der Satz trifft den Nagel auf den Kopf. Genau der gleiche Wortlaut, den ein Freund und ich neulich an den Tag gelegt hatten.

Positiv sicher, dass sich die Macher offensichtlich mit der Szene auseinandergesetzt haben (die vielen kleinen und größeren Details!). Beispielhaft sei hier der Generationenkonflikt genannt, der m. E. gut herausgearbeitet wurde.
Negativ: Ein wirklicher Spannungsbogen wollte sich aus meiner Sicht aber leider nicht aufbauen, was im schon erwähnten, sorry, verkackten und viel zu abgehackten, Finale mündet.

Sicher mehr als 0815, aber eben auch kein 0190.