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Tod des Lazio-Rom-Fans Gabriele Sandri III

In meinen letzten beiden Einträgen habe ich mich ja vornehmlich dafür interessiert, wie die Medienmaschinerie und die Staatsmacht ihr Programm abspulen, das Ansehen der Demokratie zu bewahren und die Schuld den Ultràs zuzuschieben. Jene ihrerseits instrumentalisieren den Tod Gabriele Sandris wiederum für ihre Zwecke. Kurzum, ein Tod, der herzlich wenig mit Fußball zu tun hat, wird von der einen Seite gebraucht, um mit einem Märtyrer auf den Fahnen die Massen zu mobilisieren und die andere Seite greift den Ball natürlich liebend gern auf, um a) vom eigenen Totalversagen abzulenken und b) den bösen Fußballfans, die das perlweiße Produkt Fußball-Liga beschmutzen, mit ihren Fahnen Werbebanner verdecken und mit ihren Gesängen Werbejingles in den Stadien übertönen, endlich loszuwerden.

Der kritischen Journalisten (also die aussterbende Fraktion von Idealisten, die noch den Kopf bemüht, statt Pressemitteilungen abzuschreiben, um möglichst anstrengungsarm ihre 8 Stunden rumzukriegen) hatten ja zurecht eingeworfen, dass die Ultrà-Gewalt zeitlich auf ein unerhörtes Ereignis folgte: Ein Polizist erschoß einen Fußballfan und der Spielbetrieb wurde – anders als beim im Februar auf mysteriöse Weise zu Tode gekommenen Raciti – wie geplant fortgesetzt. Mithin: hätte man den Fan nicht erschossen oder wenigstens angemessen und pietätvoll reagiert, wäre auch nichts passiert. Ein durchaus vertretbarer Einwand angesichts der Tatsache, dass die qua journalistischer Faulheit quasi gleichgeschalteten Medien, ja fast einhellig über härtere Strafen für Fußballfans und bürgerkriegs-ähnliche Zustände schrieben und den Auslöser der Randale aus den Augen verloren. Sandri war nämlich keineswegs ein brutaler Schläger oder auch nur Ultrà, der während brutaler Kampfhandlungen erschossen wurde, als er mit Stirnband, Patronengürtel, Uzi im Anschlag und Handgranate in der linken mit seinem Platoon auf zwei verängstigte Verkehrspolizisten zustürmte. Nur nochmal zur Erinnerung.

Der italienische Innenminister Giuliano Amato äußert sich nun zu dem Fall. Er verteidigt das Vorgehen der Polizei, natürlich, das ist ja auch sein Job. Er muss also den Vorwurf entkräften, dass es ohne das Niederschießen eines im Auto sitzenden jungen Mannes von hinten ja wohl keine Proteste gegeben hätte. Sehr erhellend ist es nun, wie er das tut: „Gabriele Sandri, ha osservato, „non sarebbe morto se un poliziotto non avesse sparato, e questo è comunque imperdonabile, ma non sarebbe morto neppure se i tifosi di due squadre diverse, incontrandosi in un autogrill, non si cimentassero in risse ma bevessero un caffè insieme“.“ Er stellt also fest, dass Gabriele Sandri „nicht tot wäre, wenn ein Polizist nicht geschossen hätte, und das ist natürlich unentschuldbar, aber er wäre auch nicht tot, wenn die Fangruppen zweier Vereine sich nicht miteinander angelegt hätten, sondern gemeinsam einen Kaffee getrunken hätten.“

Pause.

Die Assoziationen zu dieser Rechtsauffassung sind natürlich unendlich. Wenn der Flüchtling nicht versucht hätte, über die Berliner Mauer zu fliehen, wäre er auch nicht erschossen worden. Wenn ich in meiner Wohnung nicht den Goldschmuck meiner Familie gehortet hätte, wäre auch nicht eingebrochen worden. Wenn ich nicht noch um 22.00 Uhr zur Tanke gemusst hätte, um Bier zu holen, hätte mir auch niemand die Autotür zerkratzt. Wenn mein Kind nicht zur Schule gegangen wäre, hätten die Klassenrowdies ihn auch nicht verprügelt. Wenn die Dame abends im Klub keinen Minirock angezogen hätte, wäre sie auch nicht vergewaltigt worden. Wenn die beiden Schwarzen in den Südstaaten nicht unbedingt in diesem Dorf hätten leben müssen, hätte der KuKluxKlan sie auch nicht aufgehängt. Auch ein interessanter Standpunkt.

Man kann das Spiel von der Henne und dem Ei unendlich lange durchspielen. Wer war zuerst da? IRA oder britische Truppen? Cromwell? Palästinensische Gewalt oder israelisches Militär? Vor jedem ungerechten Ereignis gab es immer schon ein anderes, was der Opponent zur Rechtfertigung heranziehen kann. Auf diese Art und Weise kann man einen Konflikt ins Unendliche verlängern und der internationale Terrorismus – und der Kampf dagegen – zeigen uns ja, wie es funktioniert (dass die festgesetzten Ultràs wegen „terroristischer Aktivitäten“ angeklagt werden sollen, ist sicherlich nur Zufall). Dabei ließe sich das ganze Knäuel doch durch das kleine, im europäischen Recht seit jeher verankerte Wörtchen „Verhältnismäßigkeit“ entwirren. War der Schuß durch irgendeine Aktion, die mit den Tatumständen unmittelbar verbunden ist, direkt gerechtfertigt? Nein. Ist der nachfolgende Gewaltausbruch der Ultràs besonders in Rom in irgendeiner Form durch die vorherigen Geschehnisse gerechtfertigt und rechtlich entschuldbar? Nein.

Beide Taten sind derzeitiger Höhepunkt einer Jahre, wenn nicht Jahrzehnte andauernden Kette von kleineren und größeren Ereignissen, Verletzungen, Diffamierungen, Toten, die sich ins gemeinsame Bewusstsein der beiden verfeindeten Gruppen eingebrannt haben und aus denen die Seiten jeweils ihre Rechtfertigungen ziehen. Wenn man weder Ultrà noch Polizist ist, sieht das übertrieben und absurd aus – die Suche nach Ursachen führt in hunderttausende Verästelungen von Geschehnissen. Die Auflösung dieses Knotens taugt sicher auch als Rezept für den Palästina-Konflikt – ich wage nicht, mich da einzubringen. Allerdings bin ich auch nicht mit der radikal verkürzten Darstellung des Falls in den Massenmedien zufrieden. Ich nehme lobend die hervorragende und kritische Berichterstattung der Repubblica hier aus, von Spiegel Online, ansonsten von mir sehr geschätzt, bin ich dagegen nur enttäuscht.

Amato steht übrigens seit den 30.September 2006 der sogenannten „Gruppo Amato“ vor, offizieller Name ist „Comitato d’azione per la democrazia europea“ (Action Committee for European Democracy, ACED), unterstützt von der Europäischen Union, die ihre Repräsentanten zu den Tagungen schickt. Na dann.

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