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Mehr Anarchie wagen

Ein kleiner, schöner Moment in den letzten Jahren, die ich durch viele deutsche Kurven der ersten bis achten Liga gereist bin, trug sich in Darmstadt zu. Oft genug verstecken sich Denkanstöße, Wahrheiten und wichtige Themen in winzigen, unbedeutenden Anekdoten und unterstreichen das einzig wichtige Konzept, wenn man eine Sache richtig verstehen will: man muss hinschauen und hinhören. Die Darmstädter stehen in ihrer Ecke der Hauptttribüne und supporten, wie sich das für Ultràs gehört. Der Spielstand von 3:0 befeuert die Ränge und die Stimmung ist ausgelassen. Kurz vor Ende der zweiten Halbzeit erhebt sich Kutten-Kalli – ein Faktotum, das im Böllenfalltor verwurzelt ist wie niedliche Katzenbilder im Internet -, geht vor an „sein“ Geländer, die Ultràs verstummen und Kalli stimmt seine zwei Sprechchöre an, auf die seine Hälfte der Haupttribüne antwortet: 60-jährige im Sitzen, 16-jährige im Stehen. Mit einem Lächeln setzt er sich wieder hin und die Lilien-Ultras nehmen den Tifo wieder auf. Vermutlich hat Kalli das schon immer so gemacht und dass er einen Platz bekommt für „sein“ Ritual fand ich so herzerwärmend, dass er mich zu einem Versuch einer Kurzgeschichte animierte. Mach ich ja sonst nie.

Mir fiel diese kleine Episode am Samstag wieder ein, inmitten eines langen, schönen Gesprächs über die Situation deutscher Kurven, das ich – Bier in der Hand – in Leverkusen führen durfte. Es hätte aber wohl auch in jeder anderen Szene stattfinden können, so oft ist das Thema schon aufgetaucht. Stichworte? „Uns ist der Spaß verloren gegangen“, „Wir kopieren zuviel“, „Image ist viel zu wichtig“. Um gleich allen Mißverständnissen vorzubeugen, sage ich erst einmal deutlich, dass das Folgende einfach nur meine persönliche Meinung ist, geboren aus den Erfahrungen von jemandem, der in den 80er Jahren fußballerisch sozialisiert wurde und der niemals in Erwägung ziehen würde, bewerten zu wollen, wie Ultràs oder Kurvenfans ihre 90 Minuten Stadion feiern. Mithin: Macht, was ihr wollt! Geht ab! Feiert! Und hört nicht auf den misogynen 42-jährigen. Die Situation in deutschen Stadien ist verglichen mit Italien bei allen Problemen idyllisch, die Kurven sind voll, bunt und laut, deutsche Ultràs machen – meiner Meinung nach – jede Menge richtig.

Esel im Marassi
Esel im Marassi

Aber mir fehlt manchmal der Spaß, das Anarchische, das Spontane. Mir fehlt der Witzbold, den es früher in jeder Kurve gab und dessen Aufgabe nur war, jede Spielszene und Schiedsrichterentscheidung mit einem blöden Spruch zu kommentieren. Mir fehlen die Typen mit der ewigen braunen Bierflasche in der Hand, die nie was sagten. Mir fehlen die spontanen Gesänge, die live gedichtet wurden, um auf ein Mißgeschick des gegnerischen Stürmers zu antworten, auf dessen Frisur oder Schuhwerk. Mir fehlt die komplette Albernheit, die nur in Stadionkurven gedeihen kann, das Dumme, das Anarchische, der Punkrock. In Italien wurde die Ironie mit dem Knüppel der Repression aus den Kurven vertrieben. Italien, wo früher Schweine, Hühner und Esel mit ins Stadion gebracht wurden, Mopeds und Fahrräder, wo Parma einen Heißluftballon ans Geländer des San Siro knüpfte, der dann für 90 Minuten unterm Dach baumelte. Italien, wo die „Acquatici“ von Hellas ihren Auswärtsbus in Badehose, Schnorchel und Tauchermaske entern, lange Ruder aus dem Fenster stecken, einen Trommler neben den Fahrer stellen und die Autobahn als Galeere entlangrudern. Warum? Weil sie Bock drauf hatten. Weil sie darüber lachen konnten. Weil irgendein Bekloppter die Idee hatte.

Fußballer sind mittlerweile zu Fußballbeamten geworden, die Interviews sind wie von der PR-Abteilung fertiggebügelt und strotzen nur so von „Ärmel hochkrempeln“ und „das war natürlich ein tolles Gefühl“. Verschwunden sind die Gattusos und Materazzis, die Effenbergs und Baslers, die Kahns, Cantonas, George Bests und Paul Cascoignes, bei denen man nie genau wusste, was sie ins Mikrofon sagen würden. Einzig Ibra trägt die Fahne des Fußballers, der Emotionen schürt, der polarisiert, einsam weiter. Auf den Rängen sind die Maximalausdrücke proletarischen Humors verschwunden, von „Giuglietta è na Zoccola“ (Julia ist ne Schlampe) bis „Semo tutti parucchieri“ (Wir sind alles Frisöre). Verschwunden sind die herrlich unperfekten selbstgemachten Banner der früheren Jahrzehnte, die mittlerweile am PC designten, grafisch millimeterperfekten professionell hergestellten Produkten gewichen sind. Verschwunden sind selbstgestrickte Schals, furchtbar schlecht gezeichnete Aufkleber und schlechte Witze.

Gediehen ist hingegen die Bereitschaft deutscher Ultràgruppen, sich anhand von Kategorien wie Boxkampf-Fähigkeiten zu klassifizieren oder einem „Image“ nachzulaufen. „Meine“ Curva Sud zum Beispiel machte die BRN und die Fossa unsterblich, weil sie in ganz Europa für ihre Choreografien respektiert wurde, Meisterwerke der Stadionkunst: Auch Fossa und BRN wussten, dass eine Auswärtsfahrt im Zweifel kein Spaziergang ist und wenn man in Bergamo falsch abbiegt, dann kann es zu dem kommen, das gern „scheppern“ genannt wird. Aber bekannt, geachtet und respektiert waren sie für ihre Fähigkeit, das San Siro in einen atemberaubenden Tempel des Fußballs zu verwandeln: für Choreos, Gesänge, Pyrotechnik. Hauen konnten sie sich auch, aber ich hatte in Italien immer das Gefühl, das „gehört einfach dazu, sonst kriegt man das gegnerische Banner ja nicht.“ Auch dass man sich in der Curva Sud bemüht hätte, irgendeinem Image zu entsprechen, hatte ich so nicht wahrgenommen. Wir gingen in die Kurve, machten wozu wir gerade Spaß hatten und lachten über die komischen Käuze in unserer Mitte.

Und vermutlich deshalb hat sich mir die kleine Anekdote in Darmstadt ins Gedächtnis gebrannt: eine kleine Ecke für etwas eigenes, für etwas, das „schon immer so war“, für etwas deutsche Tradition, die nicht von Youtube entlehnt ist. Normalität eben, ohne Nachdenken darüber, wie so etwas wohl „ankommt“, ohne Youtube, ohne Northface, ohne Facebook. Dafür lustig, menschlich und entspannt. Ich, ganz allein und ganz persönlich, empirisch nicht untermauert und wissenschaftlich auf tönernen Füßen stehend, würde mir wünschen, dass ihr in der Kurve wieder lachen lernt. Kurven sind ein Ort um frei zu sein, spontan. Zwei Bier oben rein und abgehen. Dumme Sprüche hauen, Spielern „live“ Gesänge dichten, nackten Hintern an die Plexiglasscheibe drücken und nicht drüber diskutieren. Korrekt, perfekt, abgewogen, organisiert können wir alle in den anderen 6 Wochentagen lang genug sein. Ihr müsst mich nicht fragen, „wie ihr wart“, ich finde ausnahmslos jede deutsche Kurve toll. Aber vor allem ist meine Antwort zwischen den Zeilen immer: „Hattet ihr Spaß? Ja? Na dann ist doch alles knorke.“ Druck gibt es von Außen mehr als genug, macht euch keinen eigenen Stress. Spaß ist, mitzumachen, nicht die Bilder auf der Facebook-Seite. Ich wünsche mir also mehr Punkrock im Stadion und weniger Glam. Und vor allem: Macht doch was ihr wollt und lasst euch von dem alten Sack nicht reinreden. Der wollte nur auch mal was sagen. Peace.

9 Antworten auf „Mehr Anarchie wagen“

[…] Es fehlte mir genau nichts an diesem Sonntagnachmittag: keine millionenschweren Starspieler, keine Tessera del Tifoso, keine Ausweispflicht, kein Trommelverbot, keine elektronischen Drehkreuze, lärmenden Werbejingles, keine VIP-Lounges. Denn der Fußball war vollständig versammelt: Leidenschaft, Dreck, Bier, Pyro, rote Karten, Elfmeter, Beleidigungen, Frauen. Und ganz viel Lachen. Der Spaß daran, dumme Witze unter Freunden zu machen, sich einen noch dümmeren Sprechchor auszudenken, Gegner und vor allem sich selbst zu verarschen. Feiern. Anarchie. […]

[…] Zum Spiel braucht man eigentlich nicht viele Worte zu verlieren, da es eher den Stellenwert eines Freundschaftsspiels hatte. So sahen das übrigens auch die Anhänger der Königlichen, die im Grunde schon voll auf den Clásico am Sonntag gegen den FC Barcelona eingestellt waren. Daraus resultierte dann auch die schlechteste Europapokalatmosphäre von Heimseite, die ich jemals gesehen habe. Dementsprechend war es kein Wunder, dass der Schalker Anhang über 90 Minuten Herr im Hause war. Etwas verwunderlich war meiner Meinung nach an diesem Tag die Liedauswahl der Nordkurve. Hätte man aufgrund der Ausganslage eher mit einem Spaßsupport und Ironie im Schalker Block gerechnet, wurde über die gesamte Spielzeit mehr oder weniger das Standardrepertoire heruntergespult. Erst nach dem Spiel wurden dann tatsächlich Lieder wie der Jens Keller Song und alte Klassiker wie “Wer kreist so wie ein Falke” angestimmt. Da wäre sicherlich mehr drin gewesen. Nicht immer alles so ernst nehmen! […]

[…] Ein kleiner, schöner Moment in den letzten Jahren, die ich durch viele deutsche Kurven der ersten bis achten Liga gereist bin, trug sich in Darmstadt zu. Oft genug verstecken sich Denkanstöße, Wahrheiten und wichtige Themen in winzigen, unbedeutenden Anekdoten und unterstreichen das einzig wichtige Konzept, wenn man eine Sache richtig verstehen will: man muss hinschauen und hinhören. Die Darmstädter stehen in ihrer Ecke der Hauptttribüne und supporten, wie sich das für Ultràs gehört. Der Spielstand von 3:0 befeuert die Ränge und die Stimmung ist ausgelassen. Kurz vor Ende der zweiten Halbzeit erhebt sich Kutten-Kalli – ein Faktotum, das im Böllenfalltor verwurzelt ist wie niedliche Katzenbilder im Internet –, geht vor an „sein“ Geländer, die Ultràs verstummen und weiter lesen […]

wenn man es so sieht können wir auf unseren A.Block, den F-Block und auch manchmal die Gegengerade stolz sein…ich habe immer Spass und man muss sagen das wir ja noch mit unseren "Die Sonne scheint" und "Allez le bleu" noch individuell sind, aber auch einiges anderes zaubert mir ab und an ein Grinsen ins Gesicht, was auf den Rängen gesungen wird….also wer den geforderten Spass haben mag soll doch einfach ans Bölle kommen