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Matti per il calcio – Verrückt nach Fussball

„Sportdirektoren, die Schiedsrichter in der Umkleide einsperren, abgehörte Schiris und Spieler, verkaufte Meisterschaften. Es reicht, die sollen ihren Fussball behalten. Die Kranken sid die, nicht wir. Die Leute sollten die Fernsehgeräte abschalten und unsere Spiele anschauen kommen, denn unserer ist der wahre Fussball: der Staub, der Schlamm, die Tore mit völlig zerrissenen Netzen. Und vor allem der Wunsch, zusammen zu sein. Ein gesunder, gesundester, Fussball, sogar therapeutisch. Denn mir hat der Fussball das Leben gerettet. Im wahrsten Sine des Wortes.“
Carlo Strappaghetti, Kapitän von Gabbiano, Italienischer Meister der Spielserie für geistig Behinderte

Matti per il calcio („Verrückt nach Fussball“ und „Verrückte für den Fussball“, das schöne Wortspiel hat leider keine deutsche Entsprechung) ist der Titel einer Dokumentation des italienischen Staatsfernsehens RAI von Wolfango de Biasi und Francesco Trento über den Spielbetrieb der Mannschaften für Menschen mit geistigen Krankheitsbildern. 1978 wurde in Italien das Basaglia-Gesetz verabschiedet (legge 180/78), welches das bis dahin übliche Wegsperren geistig Behinderter abschaffte und einen Weg ebnete, mental kranken Menschen eine Teilhabe am „normalen“ Alltagsleben zu ermöglichen. Den so „Freigelassenen“ widmeten sich unzählige Initiativen, die den Kranken ermöglichen, im Rahmen ihrer Möglichkeiten, ihre Talente auszuleben und ihre Menschenwürde zurückzugewinnen.

„Die Verrücktheit ist eine menschliche Eigenheit. Das Irre existiert in uns genauso wie die Vernunft. Das Problem ist, dass die Gesellschaft, um sich tatsächlich gesund nennen zu könen, das Verrückte genauso wie die Vernunft akzeptieren müsste. Stattdessen nutzt sie eine Wissenschaft, die Psychiatrie, das Verrückte in eine Krankheit zu übersetzen mit dem Ziel, diese auszurotten. Hier haben die geschlossenen Anstalten ihren Daseinszweck.“
(Franco Basaglia)

Im Film „Matti per il calcio“ begleitet die RAI die Mannschaft „Il Gabbiano“ aus einem ärmlichen Quartier im Norden Roms durch die Saison 2003/04. Überhaupt nicht von oben herab werden die Spieler der Manschaft vorgestellt, kleine Einspieler beleuchten ihre Krankheitsgeschichte und ihre – dann gar nicht so ungewöhnlichen – Alltagsprobleme. Zweimal wöchentlich trainiert man auf dem Hartplatz der Polisportiva Bufalotta und sowohl Platz wie Umkleidekabinen haben sicher schon bessere Zeiten gesehen. Aber das stört die „Verrückten“ genauso wenig wie die hunderttausenden Freizeitkicker, deren geistige Abweichung noch nicht diagnostiziert wurde. Getrieben vom herrlich ansteckenden Enthusiasmus der Spieler beginnt man, den „Gabbiani“ die Daumen zu drücken. Genau wie jeder andere auch streiten sie mit dem Schiedsrichter oder werfen sich vor Freude in den Schlamm, wenn der Siegtreffer in der Nachspielzeit bejubelt wird. Selbstverständlich gibt es eine Schweigeminute, weil die Mutter des Torjägers in der Nacht verstorben ist und natürlich müssen Trainer und Therapeuten mit ran, wenn die Mannschaft keine 7 Spieler zusammenbekommt, weil es einigen mal wieder etwas schlechter geht. Wie die Großen in der Serie A geht man dem Verteidiger ans Hemd, wen der mal wieder zu oft gefoult hat und wie zu selten in der Serie A ist das nach Spielschluss mit einem Handschlag alles wieder erledigt.

Matti per il calcio – die schönsten Tore

Und trotz aller demonstrierten und auch wahrhaftigen „Normalität“, beginnt man, in den kurzen Interviewsequenzen zu begreifen, was der Fussball für diese sympathischen Menschen wirklich bedeutet: die Chance, wieder am Leben teilzunehmen, ein paar Stunden Normalität zu erleben, die ihnen sonst von der Gesellschaft verwehrt wird. Als ob sie nicht schon allein genug Probleme mit sich selbst hätten – ohne weitere Behinderungen von außen. Wenigstens für die Dauer des Spiels müssen sie sich nicht mit ihrer Krankheit plagen, sich nicht mit Vorurteilen und Mitleid auseinandersetzen. Auf dem staubigen (oder schlammigen, je nachdem) Rechteck gelten die Gesetze des Spiels: Das Team gewinnt nur, wenn alle zusammen halten und jeder einzelne im Rahmen seiner Möglichkeiten alles gibt. Das Runde muss ins Eckige und wer mehr Tore schiesst, gewinnt. Dafür braucht es keine Einsteins, sondern Menschen, die bereit sind, an ihre Grenzen zu gehen. Und das tun sie mit einer Freude und einem Elan, der wirklich ansteckend ist. Hier auf dem Platz zählen nicht ihre Schwächen, sondern ihre Stärken – endlich ein Feld, auf dem sie Selbstbewusstsein im wahrsten Sinne des Wortes tanken können.

Matti per il calcio – der Trailer

Und Fussballspielen können sie. Beginnend beim bulligen Stürmer Mario, Schizophreniker, 43 Jahre mit einer fussballerischen Vergangenheit in Achillea. Seine präzisen Rechtsschuss hat er nicht verlernt. Um nichts in der Welt würde Mario auf ein Spiel der „Gabbiani“ verzichten; und seit er in der Mannschaft spielt, musste er kein einziges Mal zurück in die „Geschlossene“. Oder nehmen wir Benedetto, 41, Doktor der Psychologie, Spross einer reichen Familie. Zu Beginn seiner Karriere musste ihn immer jemand abholen, ihm die Tasche packen und ihn überzeugen, am Training teilzunehmen. Heute ist „Il Gabbiano“ ein Fixpunkt in seinem Leben, er ist bei jedem Training der Erste und seine Tasche ist aufs akkurateste gepackt. Von ihm selbst. Oder Valerio, der Torwart: Valerio hat eine Drogen- und Alkoholgeschichte, die seine Schizophrenie dramatisch verstärkte. Seit er Teil der Mannschaft ist, hat er zurück ins Leben gefunden. Heute arbeitet er im Friseursalon seiner Eltern und hat eine Freundin.

Matti per il calcio – bei „Dribbling a parte“

Natürlich hat die Teilnahme am Mannschaftssport eine therapeutische Bedeutung: erstmals haben die Spieler die Möglichkeit, sich mit echten Gegnern zu messen und sich selbst im Wettkampf gegen sie zu definieren, anstatt sich 24 Stunden am Tag mit eingebildeten, fiktiven Gegnern auseinanderzusetzen. Aber das wichtigste am vorliegenden Film ist, dass er den Zuschauer ohne erhobenen Zeigefinger am Alltag teilnehmen lässt: dumme Witze unter der Dusche, ausgelassene Gesänge nach einem Sieg, wüste Schiri-Beschimpfungen und abergläubische Rituale vor dem Spiel. Man lernt die Spieler als Menschen kennen, Menschen die nicht über ihre Krankheit definiert werden, sondern deren Krankheit Teil ihrer Persönlichkeit ist. Oder wie der Trainer und Therapeut es ausdrückt: „Es geht nicht darum, dass ich sie mit ihren Schwierigkeiten akzeptiere es geht darum, dass sie mich in ihrem Spiel in meiner Andersartigkeit als Teil der Mannschaft akzeptiert haben.“

Es ist völlig irrsinnig, die Auswüchse des modernen Fussballs als normal zu bezeichnen und die Jungs der Gabbiani als „verrückt“. Verrückt nach Fussball sind sie, ansonsten vergisst man gegen Ende der Dokumentation immer wieder, dass es um teils schwerwiegend kranke Menschen geht. Das spielt nämlich keine Rolle. Und in Bezug auf Selbstironie können sich die schwerbezahlten Profi-Kicker gern mal eine Scheibe abschneiden: deren Interviews sind nämlich meterweit tiefgründiger und lustiger als das, was man in der Sportschau so angeboten bekommt.

6 Antworten auf „Matti per il calcio – Verrückt nach Fussball“

Warum der Zusatz "das auch sowas jemand liest" ? Genau das drängt doch diesen schönen Beitrag wieder in die Ecke, aus der das Leben von unseren Menschen mit Behinderungen rausgehört. Eine herrliche Truppe, die "Gabbiani" .

Ja, hast recht. Ich möchte gar nicht, dass "sowas" in irgendeiner Ecke landet, weil es tatsächlich um Dinge geht, die mitten in der Gesellschaft stattfinden. Genauso normal wie jede andere Freizeitkickerliga auch.