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Interview Schickeria Gazzetta 09.04.2014

Die Sicherheitsdebatte im italienischen Fußball nimmt Fahrt auf. Wie bereits am 01.04. berichtet, treffen sich am 11.04. Vertreter zahlreicher italienischer Kurven mit Politikern und Anwälten, um über die Stadionverbotsregelungen und die Tessera del Tifoso zu diskutieren. Gestern nun prescht das für die praktische Ausgestaltung der Sicherheitsrichtlinien zuständige „Osservatorio Nazionale sulle Manifestazioni Sportive“ (Nationale Beobachtungsstelle für Sportveranstaltungen) vor und lässt Innenminister Alfano die Ergebnisse der eigenen „Task Force“ präsentieren: Unter dem immergrünen Titel „Mehr Sicherheit in den Stadien“ werden Modifikationen am derzeitigen Regelwerk angekündigt, die z.B. die Einführung eines elektronischen Online-Kartensystems vorsehen (natürlich mit dem Online-Abgleich in Echtzeit mit der Polizeidatenbank), den Verkauf von Gästetickets auch am Spieltag (natürlich nicht bei „Risikospielen“), den Verzicht auf die Pflicht zur Tessera bei begleiteten unter-14-jährigen und ein paar weiteren homöopathischen Änderungen.

Der dramatische Zuschauerschwund im italienischen Fußballbetrieb hat offensichtlich eine Alarmschwelle unterschritten, die die Verantwortlichen zur Aktion drängt. Wo die Proteste gegen verfassungsrechtlich fragwürdige Repressionsmaßnahmen noch ungehört verhallten, befeuert der Einnahmeneinbruch an der Stadionkasse die sich zumindest unter der Hand verbreitende Ansicht, dass der bisherige rein repressive Ansatz gescheitert ist.  Mittlerweile erklären eine Reihe von Vereinen relativ unverblümt die „Tessera del Tifoso“ für gescheitert, die Fans ja sowieso, aber auch in den Reihen der Politiker äußert sich Änderungswillen. Die ehrwürdige Gazzetta dello Sport begleitet seit Samstag mit einer Artikelserie zur Fankultur den Meinungsbildungsprozess, bisheriges Highlight ist die Veröffentlichung von 4 Interviews mit Räpresentanten der Kurven aus 4 europäischen Ligen – England, Spanien, Italien, Frankreich – in der heutigen Printausgabe. Gemeinsam mit Giorgio Specchia, Autor von „Il Teppista“ habe ich Gruppen von Nottingham Forest, Bayern München („Schickeria“), Valencia („Ultra Yomus“) und Nizza („Ultras Populaire Sud Nice“) zu Themen wir Fankultur, Rassismus und Repression interviewt, die in der heutigen Gazzetta eine eigene Doppelseite erhalten. Hintegrund war, die italienische Repression im europäischen Kontext aufzuzeigen und vor allem, den jeweiligen Betroffenen die Möglichkeit zu geben, sich in einem nationalen Printmedium  zum Thema zu äußern. Aus Platzgründen sind die Interviews in der Gazzetta behutsam gekürzt, hier auf altravita (auf italienisch unter diavoltaire.com) die ungekürzten Originalantworten. Ich möchte mich bei allen beteiligten Gruppen und Einzelpersonen für die Hilfe bedanken, ich weiß, das das keine Selbstverständlichkeit ist. Den Anfang macht heute die Schickeria, die weiteren Interviews folgen in den nächsten Tagen.

Wie supportet man in deutschen Kurven? Rauchbomben, Fahnen, Trommeln, Megaphone, Stehplätze: Was ist verboten und was ist erlaubt?

Die seit Mitte der 90er Jahre wachsende und zunehmend die Kurven dominierende Strömung der Fankultur bedient sich aller dieser genannten Dinge. Viele Gruppen orientieren sich an den italienischen Kurven, wie sie sie bei vielen Besuchen von Spielen in den 90er Jahren kennen und lieben gelernt haben.
Rauchbomben und Bengalos sind in den deutschen Stadien verboten aber trotzdem Teil der Fankultur. Es gab in den letzten Jahren Bemühungen der Fans, über eine Legalisierung wie in Österreich Gespräche zu führen. Diese sind leider gescheitert. Manche Vereine verbieten den Gästefans Fahnen, Trommeln und Megaphone, wenn die Fans des Vereins beim vorherigen Spiel Pyro verwendet haben. Von dieser Erpressung rücken die Verantwortlichen inzwischen immer mehr ab, da sie verstanden haben, dass sie auf diese Art und Weise keinen Erfolg haben. Wir sind zuversichtlich, dass Fahnen, Trommeln und Megaphone ohne Einschränkungen oder Bürokratie bald als feste Bestandteile überall erlaubt sein werden.
Stehplätze sind ein fester Bestandteil der deutschen Fußball-Kultur.

Verglichen mit der Vergangenheit, hat die Zahl der Leute, die in die Kurve gehen zu- oder abgenommen?

Die Zahl der Leute, die in die Kurven gehen, nimmt überall zu. Genauso wie die Zahl derjenigen, die überhaupt ins Stadion gehen. Unserer Meinung nach ist dies gleichermaßen der Attraktivität der Spiele wie auch der Faszination für die Fankultur und die Kurven zu verdanken, sowie den Stehplätzen.
Bei manchen Vereinen mit großer Vergangenheit, die heute in den niedrigeren Klasse antreten, gehen mehr Leute in die Kurve, als in andere Bereiche des Stadions. Die Kurven halten diese Vereine am Leben.

In Italien gibt es die sehr umstrittene Tessera del Tifoso. Und in Deutschland…

In Deutschland gibt es nichts derartiges. Wenn an dieser Stelle die Anmerkung erlaubt ist: für deutsche Fußballfans, die aus Verbundenheit und Interesse Spiele in Italien besuchen wollen, stellt die Einführung der Tessera in Italien und die mit ihr verbundene Bürokratie eine große Hürde dar.

Gibt es Einschränkungen für Auswärtsziele?

Darüber hinaus, dass manchmal den Auswärtsfans wie oben erwähnt Fahnen, Trommeln und Megaphone verboten werden und der Heimkurve nicht, gibt es keine Einschränkungen für die Auswärtsfans. Es ist garantiert, dass ein gewisser Prozentsatz der Stadionkapazität für die Gäste reserviert ist und das in diesen Bereichen die Preise nicht höher sein dürfen, als in den vergleichbaren Kategorien der Heimfans. Es gibt in jedem Stadion Stehplatz-Bereiche für die Gästefans. Vereinzelt wurde es Fans der Gastmannschaft verboten zu Spilen zu reisen. So zum Beispiel bei der Begegnung St. Pauli-Hansa Rostock. Die Rostocker organisierten dann einfach eine große Demonstration in Hamburg am Spieltag. Auch Frankfurt und Dresden hatten bereits Verbote. Mit Hilfe der Gruppen auf Heimseite wurden, kamen die Gäste aber trotzdem an Karten und konnten so ihre Mannschaft unterstützen. Da die Strafen also nicht dazu geführt haben, dass die Gästefans zu Hause bleiben, hat der DFB angekündigt, zukünftig keine Auswärtsverbote mehr zur Sanktionierung einzusetzen. Ein Sieg für uns Fans. Ein Sieg für den Fußball.

Gibt es Stadionverbote? Und wenn ja, von welcher Instanz werden diese Verbote ausgesprochen, Sportveranstaltungen zu besuchen (Polizei, Gerichte…)?

Stadionverbote sind ein großes Problem für die deutschen Kurven, da sie nicht von Gerichten, sondern den Vereinen ausgesprochen werden. Damit unterliegen sie keinen rechtsstaatlichen Grundsätzen, sondern schwammigen Regularien. Diese Regularien sehen vor, dass ein Stadionverbot ausgesprochen wird, wenn ein Verdacht einer Tat besteht. In so einem Fall schlägt die Polizei ein Stadionverbot vor und die Vereine sprechen es in der Regel aus. Bei Fußballspielen kommt es aber oft vor, dass Einzelne eine Tat begehen und ganze Gruppen, zum Beispiel weil sie im selben Zug oder Bus fahren, daraufhin erstmals verdächtigt werden und Stadionverbot bekommen. In eigentlich allen Fällen, in denen auf diese Weise 40, 50 oder sogar 100 Fans auf diese Weise Stadionverbot erhalten haben, erheben die Gerichte nach einiger Zeit nicht einmal Anklage, weil sie den Fans nichts vorwerfen können. Dann werden die Stadionverbote aufgehoben. Allerdings erst nach bis zu einem Jahr, solange dieses ganze Prozedere dauert. Das widerspricht der Unschuldsvermutung, die in der Verfassung steht.

Welchen Stellenwert hat Politik, heute, in den deutschen Kurven?

Manche Kurven sind unpolitisch. Einige Kurven bedienen sich des Deckmantels des Unpolitischen, um eine rechte Grundeinstellung zu verstecken. Manche Kurven sind antirassistisch, manche links. Die allerwenigsten bekennen sich offen dazu, rechts zu sein. Politik ist in den Kurven allgegenwärtig, weil Politik nichts anderes ist, als seine Meinung zu Dingen zu äußern und sich dazu zu organisieren, die einen betreffen. Es ist egal, ob es dabei um Rassismus oder um Stadionverbote geht.

Rassismus in deutschen Kurven? Wahrheit oder Quatsch?

Die Kurven sind ein Brennglas gesellschaftlicher Entwicklungen und ein gesellschaftliches Massenphänomen. Ein latenter Rassismus ist in Deutschland ein gesellschaftliches Problem. Damit ist es auch ein Problem der Kurven, auch wenn heute offener Rassismus in den allermeisten deutschen Kurven keine große Erscheinung ist.
In einigen wenigen Kurven organisieren sich Rechtsradikale aus der politischen Szene zusammen mit Hooligans, die im Schatten der aufkommenden Ultras-Bewegung vielerorts eine Renaissance erleben, Einzelgängern und kleineren Gruppen, die auf mehr Einfluss hoffen, gegen sich antirassistisch positionierende Gruppen. Noch sind das Einzelfälle, man darf aber nicht seine Augen davor verschließen.
Unserer Meinung nach ist der einzig authentische Weg, sich gegen Rassismus in den Kurven zu arbeiten, das Engagement, das aus der Kurve selber kommt. Politiker, die sich gegen den Rassismus der Kurven aussprechen und gleichzeitig Wahlkampf auf Kosten von Minderheiten machen, sind Heuchler.

Die italienischen Ultràs aktuell. Eure Einschätzung.

Für uns waren die italienischen Ultras große Vorbilder, als in Deutschland die ersten Gruppen gegründet wurden. Wir blicken mit Wehmut darauf, was mit dem italienischen Fußball passiert ist. Bürokratie, Repression, Verbote, Tessera. Wir verstehen nicht, warum das Fundament dessen, was den Fußball so besonders macht, systematisch zerstört werden soll. Wir sehen aber auch einen Hoffnungsschimmer, weil in einigen Stadien die Farben zurückkehren. Non mollare mai!

Wie sieht euer Verhältnis zu deutschen Journalisten aus?

Wer offen und ehrlich auf uns zugeht und ehrlich berichtet, bekommt seine Chance. Wir sind keine Engel, aber auch keine Teufel. Wer sich mit Horrormeldungen über die Ultras einen Namen machen und Auflage generieren will, kann sich verpissen und braucht bei uns nicht anfragen. Das handhabt in Deutschland aber jede Gruppe anders und es gibt auch welche, die überhaupt nicht mit Journalisten sprechen.

Um den Fußball zu verbessern, was würdet ihr – als Fans – tun?

Der Fußball ist ein Massenphänomen und zwar ein wunderschönes. In den oberen Ligen ist er aber zu einer pervertierten Mutation verkommen. Nicht mehr die Menschen und das Spiel stehen im Mittelpunkt, sondern das Streben nach Maximierung des Gewinns.
Der Fußball muss sich wieder an denen orientieren, die ins Stadion gehen. Vieles was dort heute stört ist eher schwer zu greifen, man muss einfach bedenken, dass die Stadien ein sozialer Raum sind, in dem die Leute ihrer Leidenschaft folgen, ihre Gemeinschaft zelebrieren und ihre Farben repräsentieren. An diesem Ort werden Identitäten kreiert, große Triumphe gefeiert und Niederlagen beweint. An diesem Ort wird der Zwang der Anpassung an eine ökonomisierte Lebenswelt aufgehoben und der Fußball tritt in den Vordergrund. Gebt den Kurven Autonomie, vermindert die sinnlosen Einschränkungen und verschont uns von der Bürokratie. Nehmt Einschaltquoten in Asien nicht wichtiger ein Derby mit zwei enthusiastischen, bunten Kurven, sonst verlieren die Stadien jegliche Bedeutung und werden reine Orte des Entertainment für diejenigen, die es sich noch leisten können und wollen. Der Rest sitzt dann zu Hause vor der Glotze bis ihn das Überangebot an Fußball im TV erschlägt.

Die Möglichkeit, als Ultrà zu supporten. Welches Modell aus Serie A, Liga, Premier und Bundesliga haltet ihr im Moment für am besten?

Auch wenn wir weit weg von idealen Zuständen sind, glauben wir in der Bundesliga noch die besten Bedingungen zu finden. Mit den oben erwöhnten Einschränkungen können wir unsere Folklore ausleben. Die Eintrittskarten werden zwar immer teurer, sind für junge Leute trotzdem noch halbwegs zu bezahlen. Stehplätzen sei Dank. Man muss hier aber auch sagen, dass es uns vor allem solange gut geht, wie die Vereine uns dem modernen Publikum als Stimmungsmacher berkaufen können. Wenn wir Ultras Kante zeigen, wird auch schnell mit Einschränkungen dieser Selbstverständlichkeiten. Die Errungenschaften der Fankultur stehen in Deutschland mittlerweile aber auf einem breiten Fundament und es findet sich stets schnell eine breite Koalition um die wenigen verbliebenen Freitheiten der Kurve zu verteidigen.

Letzte Frage, in Italien gibt es das Instrument der „territorialen Diskriminierung“ und deswegen wurden Kurven gesperrt. Gibt es eine ähnliche Regelung auch in Deutschland? Gab es Kurvenschließungen auch in Deutschland? Weswegen?

Das Prinzip der territorialen Diskriminierung ist in Deutschland unbekannt. Niemand würde bisher auf die Idee kommen, eine Kurve zu sperren, weil Hamburger oder Bremer als Fischköpfe bezeichnet werden, man gegen Köln über Hochwasser singt oder uns jemand die Lederhosen ausziehen will. Das ist die Folklore. Leider kann man davon ausgehen, dass die Advokaten des klinisch reinen, modernen Fußballs sich irgendwann auch hieran stören werden. Kurvensperrungen hatten wir in Deutschland bereits aus anderen Gründen. Teilweise bestrafte der Fußballverband damit Kurven, die mehrfach große Pyroshows abgezogen hatten, teils wurde es als Sanktion bei Auseinandersetzungen oder Platzstürmen verwendet. Generell sind Kurvenschließungen in Deutschland aber sehr umstritten und kommen sehr selten vor.

Choreografie Schickeria Bayern München
Choreografie Schickeria Bayern München

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