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Die Stadien sind leer – Interview zum Zustand der türkischen Fankultur

Das folgende Interview über den aktuellen Zustand der türkischen Fankultur ist zunächst im Fußballmagazin Ballesterer erschienen.

Eine neue Fankarte mit Kreditkartenfunktion sorgt für Unmut in den türkischen Kurven. Fanaktivist Basar Yarimoglu spricht im Interview über fehlenden Datenschutz, Massenverhaftungen und Erdogans neue Türkei.

Die türkischen Fußballfans sind alarmiert: Neben schwammigen Gesetzen und der Anklage kritischer Fans sorgt seit dieser Saison die Einführung eines elektronischen Tickets für Proteste. Anfang August trafen sich Anhänger von 20 verschiedenen Klubs gemeinsam mit Fananwälten und internationalen Experten zu einem Fankongress in Istanbul, um die aktuellen Probleme zu diskutieren. Mit dabei war auch Basar Yarimoglu, Fan von Genclerbirligi Ankara.

ballesterer: Derzeit sieht man in vielen europäischen Stadien Solidaritätsbekundungen für die Besiktas-Fangruppe „Carsi“, nachdem die Staatsanwaltschaft Anfang September für einige Mitglieder der Gruppe lebenslange Haftstrafen gefordert hat.

Basar Yarimoglu: Ja, ihnen wird die Bildung einer terroristischen Vereinigung vorgeworfen. Neben unangemeldeten Demonstrationen, Widerstand gegen die Staatsgewalt, Waffenbesitz und Sachbeschädigung geht die Staatsanwaltschaft also davon aus, dass sie mit terroristischen Methoden einen Umsturz herbeiführen wollen. Die „Carsi“-Mitglieder haben erklärt, dass sie nicht aufgeben werden. Und dass sie froh sind, nicht als Diebe und Mörder angeklagt worden zu sein – das war ein Seitenhieb auf Staatspräsident Tayyip Erdogan und die Polizei.

Verhaftungen von Fans gibt es ja immer wieder. Schon im Herbst 2013 hat die Polizei im Zuge einer Operation gegen die organisierte Kriminalität 72 Fans verhaftet. Was war der Hintergrund?

Die Grundlage war das vor drei Jahren eingeführte Gesetz 6222 gegen Gewalt im Fußball. Darin wird Gewalt so schwammig definiert, dass niemand genau weiß, was alles als Übertretung gilt. Schon eine Beleidigung kann eine Gewalttat sein, auch der Einsatz von Pyrotechnik wird nach diesem Gesetz geahndet. Die Strafen werden direkt von der Polizei ausgesprochen, die Gewaltentrennung zwischen Exekutive und Judikative wird also aufgehoben. Theoretisch können die Fans zwar einen Einspruch gegen solche Strafen einlegen, in der Praxis wird dieses Recht aber von der Bürokratie ausgehebelt.

Ist die Polizei erst seit diesem Gesetz so mächtig?

In den Stadien geht es schon länger sehr repressiv zu. Bei meinem Klub, Genclerbirligi Ankara, haben wir zum Beispiel seit Jahren ein Zaunfahnenverbot, ähnliches gibt es auch bei anderen Vereinen, wo Pyrotechnik, Megafone und sogar Fahnen verboten sind. Wir müssen vor jedem Spiel mit der Polizei verhandeln: Manchmal dürfen wir Material ins Stadion mitnehmen, manchmal nicht. Das ist absolut willkürlich und intransparent. Zudem sind bei vielen Spielen wie etwa den Istanbuler Derbys Auswärtsfans verboten. In den Stadien sind zahlreiche Hightech-Kameras installiert worden, Fans werden also überwacht, unabhängig davon, ob auf den Rängen wirklich etwas passiert oder nicht. Das ist eine Belästigung und Provokation. Den Fans reicht es schön langsam, zumal die Bedingungen in den meisten Stadien fürchterlich sind – oft gibt es nicht einmal benutzbare Toiletten. Und in dieser Saison ist dann noch die Einführung von elektronischen Tickets mit der Fankarte „PassoLig“ hinzugekommen.

Wie funktioniert diese Fankarte?

„PassoLig“ ist nicht nur ein elektronisches Matchticket, sondern eine Kreditkarte. Um Tageskarten oder ein Saisonabo zu kaufen, wirst du gezwungen, Kunde bei der Aktifbank zu werden. Dann fallen schon einmal die ersten Gebühren an: Für den Erwerb der Karte und für jedes einzelne Spiel. Wir gehen davon aus, dass ein Fan unter Umständen jährlich 150 bis 200 Lira, also rund 50 bis 70 Euro, zusätzlich zahlen muss. Zum Vergleich – eine Dauerkarte für mein Team hat bisher 210 Lira gekostet. Der Vertrag mit „PassoLig“ läuft zehn Jahre, und niemand kann dir heute die Kosten für die nächste Saison garantieren. Ein weiterer Kritikpunktpunkt ist, dass du die Karte nur für ein Team kaufen kannst. Du kannst damit also nicht mehr zu einem Spiel einer anderen Mannschaft gehen.

Womit ist die Einführung der Karte begründet worden?

Sie soll angeblich Hooliganismus bekämpfen. Aber warum werden dann Fans bestraft, die Spiele verschiedener Teams sehen wollen? Auch spontane Spielbesuche werden so unmöglich, weil der Erwerb der „PassoLig“-Karte ein langwieriger bürokratischer Prozess ist. Der wichtigste Punkt ist aber der Schutz der persönlichen Informationen, die angeblich für mehr Sicherheit erfasst werden. Alle Ausweisdetails landen bei der Bank. Natürlich fragen sich die Fans, was mit ihren Daten passiert. Werden sie vielleicht sogar verkauft?

Wer profitiert von „PassoLig“?

Auch die Fankarte ist im Rahmen des Gesetzes 6222 entstanden. Der Gesetzestext besagt allerdings nur, dass elektronische Tickets eingeführt werden sollen, von einer Kreditkartenfunktion ist dabei nicht die Rede. Nun sind hunderttausende Fußballfans gezwungen, Kunde der Aktifbank zu werden. Die Bank will dank ihrer Zwangskunden zu einer der mächtigsten türkischen Banken aufsteigen. Ein kleines Detail am Rande: Der Schwiegersohn von Staatspräsident Erdogan sitzt bei der Bank im Vorstand.

Welche Protestmaßnahmen hat es gegen die Fankarte gegeben?

Fanorganisationen wie „TarafDer“ und die Vereinigung für Fanrechte „Taraftar Haklari Dernegi“ versuchen, auf das Problem aufmerksam zu machen. Wir haben mit der Unterstützung von Fananwälten sogar einen Prozess angestrengt. Schon am Ende der letzten Saison haben Fans verschiedener Vereine aus Ankara, Istanbul und Izmir gemeinsam mit Spruchbändern im Stadion und Demonstrationen gegen „PassoLig“ und das Gesetz 6222 protestiert. Daraus ist zwar noch kein landesweites Fannetzwerk entstanden, aber diese über das Internet organisierten Maßnahmen sind sehr gut gelaufen.

Was passiert in den einzelnen Kurven?

Neulich haben Karsiyaka-Fans ihre Mannschaft von außerhalb des Stadions supportet. Bei Fenerbahce und Bursaspor sind die Anhänger zu ihren U21-Teams gegangen, die Fans von Genclerbirligi besuchen die Spiele von Hacettepe, dem Farmteam des Klubs in der dritten Liga. Die Grundidee hinter diesen Boykottmaßnahmen ist es, Alternativen für die Fans zu schaffen – in einer Liga ohne „PassoLig“.

Welchen Einfluss hat die Einführung der Fankarte auf die Zuschauerzahlen?

Am ersten Spieltag sind zahlreiche Fans mit der „PassoLig“-Karte gar nicht durch die Sicherheitskontrollen gekommen, weil das System in vielen Stadien zusammengebrochen ist. Offiziell sind 270.000 Fankarten verkauft worden, das ist vom ausgegebenen Ziel von einer Million für diese Saison weit entfernt. Es sind auch nur 60.000 Dauerkarten abgeschlossen worden. Die Folgen sind klar: Die Stadien sind leer. Der Fußballverband veröffentlicht keine zuverlässigen Zahlen, aber beim ersten Spiel von Genclerbirligi waren vielleicht 500 Fans im Stadion, obwohl 1.800 „PassoLig“-Karten für den Verein verkauft worden sein sollen. Nach inoffiziellen Schätzungen sind zu den ersten Spielen der Süper Lig durchschnittlich 8.000 Zuschauer gekommen. Verglichen mit den 19.000 Zuschauern der letzten Saison ist das ein heftiger Einbruch. Ich habe beobachtet, dass sich insbesondere die normalen, also nicht organisierten Fans den Matchbesuch nicht mehr antun wollen. Ihnen ist das neue System zu teuer und für ein bisschen Unterhaltung am Wochenende zu kompliziert.

Sie haben Staatspräsident Erdogan schon angesprochen. Welche politischen Ziele werden im türkischen Fußball verfolgt?

Es gibt deutlich mehr politische Intervention im Fußball. Zum Beispiel hat es im Stadion von Genclerbirligi bislang keine Ausschreitungen gegeben, aber unsere Kurve hat immer wieder das politische Tagesgeschehen aufgegriffen. Wenn jetzt bei uns Überwachungssysteme installiert werden, dient das wohl nicht der Bekämpfung von Hooliganismus. Es gibt eine Tendenz zur Autokratie. Erdogans Schlagwort ist Yeni Türkiye, „PassoLig“ ist ein Bestandteil dieser neuen Türkei.

Gibt es für Fans überhaupt die Möglichkeit, einen Dialog mit Vereinen, Polizei oder der Liga zu führen, um ihre Ansichten vorzubringen?

Leider werden wir nicht als Dialogpartner gesehen. Wir haben auch Verbandsfunktionäre zum Fankongress in Istanbul eingeladen, gekommen ist niemand. Was wir von den „PassoLig“-Verantwortlichen und einigen Vereinspräsidenten hören, ist nur, dass sie unseren Boykott der E-Tickets sehr scharf verurteilen. Die Lösung kann aber nur in der Kommunikation mit den Fans bestehen. Wir müssen uns allerdings noch besser organisieren, um diesen Dialog auch wirklich einfordern zu können.

Wo sehen Sie die türkische Fankultur in fünf Jahren?

Entweder wir haben es bis dahin geschafft, uns zu organisieren, oder es wird in der Türkei keine Fankultur mehr geben. Dann werden auf den Tribünen nur noch reiche Kunden zu sehen sein.

Zur Person:

Basar Yarimoglu (37) arbeitet als Ingenieur in der Raumfahrtindustrie. Er ist Fan von Genclerbirligi Ankara und Gründungsmitglied der Fanorganisationen „KaraKizil“ und „TarafDer“. Im Juli 2014 wurde er in den Vorstand des Netzwerks „Football Supporters Europe“ gewählt.