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Deutsche Asylpolitik: Flüchtlinge sollen zurück nach Italien

Dieser Artikel erschien zunächst auf publikative.org.

In Hamburg sind zurzeit etwa 300 libysche Flüchtlinge gestrandet, die ursprünglich übers Mittelmeer nach Italien geflüchtet waren. Da Italien sie hätte loswerden wollen, habe man den Flüchtlingen nach deren eigener Schilderung 500 Euro und ein drei Monate gültiges Schengen-Visum in die Hand gedrückt. Nun sollen die obdachlosen Flüchtlinge die Hansestadt so schnell wie möglich wieder Richtung Italien verlassen – ein Armutszeugnis für die deutsche und europäische Flüchtlingspolitik.

Von Andrej Reisin

Wenn Deutschland sein Verständnis von „Europa“ und Migrationspolitik in Gesetze gießt, kommt zuweilen Folgendes dabei heraus: Seit exakt 20 Jahren hat man es mithilfe der dubiosen „Drittstaatenregelung“ geschafft, das Asylrecht de facto nahezu abzuschaffen und fast alle Asylsuchenden auf die südeuropäischen Staaten im Mittelmeerraum (vor allem: Italien, Spanien, Griechenland) zu verlagern. Exakt auf jene Staaten also, die nun auch noch unter deutscher Federführung mit kontraproduktiver Austeritätspolitik kaputt gespart werden.

Nun greift Italien (oder besser: einige italienische Behörden) offenbar getreu dem Motto „Fatta la legge, trovato l’inganno“ (etwa: „Das Gesetz ist gemacht, das Schlupfloch gefunden“) zu einem Trick und stattet die Flüchtlinge mit 500 Euro und einem drei Monate gültigen Schengenvisum aus und legt ihnen damit nahe, ihr Glück doch woanders zu versuchen. Auf deutscher Seite sollte man sich eher darüber wundern, dass es 20 Jahre gedauert hat, bis da in Italien jemand drauf gekommen ist. Aber man kann natürlich auch 150 Jahre alt und kein bisschen schlauer sein, denn was sagt die in Hamburg alleinregierende alte Tante SPD in Gestalt von Johannes Kahrs dazu? „Für mich ist das ein unverständlicher Vorgang. Ich weiß nicht, auf welcher Rechtsgrundlage die Italiener da handeln“, so der Hamburger Bundestagsabgeordnete.

Deutschland schottet sich ab – auf Kosten aller anderen

Dass hierzulande geschriebene Gesetze für gewöhnlich mehr gelten als etwa in Italien, könnte man als Folklore abtun, im konkreten Fall allerdings handelt es sich schlicht und ergreifend um ein deutsches Gesetz, das seinen Gegenstand nach dem Sankt-Florians-Prinzip löst. Nun sind solche Nimby-Gesetze („not in my backyard“) ohnehin mehr als fragwürdig (man denke nur an die Endlos-Suche nach einem atomaren Zwischenlager). Im Zeitalter der sogenannten europäischen Integration aber entsteht hier völlig zu Recht der Eindruck, das reiche Deutschland wolle sich noch ein bisschen mehr gegen Armutsflüchtlinge abschotten als das restliche Europa – und zwar auf Kosten der im europäischen Gefälle ärmeren Nachbarn.

Die logische Schlussfolgerung aus Kahrs‘ Bemerkungen wäre daher, dass Italien ein Gesetz machen sollte, in dem steht, „alle Asylsuchenden bekommen 500 Euro, ein 3-Monats-Schengenvisum und ein Bahnticket nach Deutschland“. Zugegeben, das ist jetzt ein bisschen zu simplifizierend argumentiert und dennoch: Was glaubt der Hamburger Sozialdemokrat eigentlich, wie die deutsche „Rechtsgrundlage“ seit 20 Jahren auf die vermeintlichen „Partner“ in Europa wirken muss? Vielleicht könnte er in den überfüllten und menschenunwürdigen Aufnahmezentren Süditaliens Anschauungsunterricht nehmen:

Über die Zustände in der EU wird erst gar nicht geredet

Gar nicht mehr thematisiert wird hingegen, inwieweit die deutsche Gesetzeslage eigentlich den Ansprüchen genügt, die man an Menschenrechte und Mitmenschlichkeit stellen könnte. Schon immer werden in Deutschland Gesetze und staatliche Anweisungen auch dann gerne befolgt, wenn sie offensichtlich unmenschliche Folgen haben. Früher mussten alliierte Bodentruppen dieser Tradition Grenzen setzen, heute tut es in aller Regel zum Glück das Bundesverfassungsgericht, zum Beispiel, wenn es der Regierung dekretiert, dass die Leistungen für Flüchtlinge grundgesetzwidrig sind.

Regenschirme mit politischer Botschaft (Foto: Dirk Stegemann)
Regenschirme mit politischer Botschaft (Foto: Dirk Stegemann)

Wie eine bessere europäische Flüchtlingspolitik konkret aussehen könnte, hat erst im März 2013 ein breites gesellschaftspolitisches Bündnis, unter anderem von Pro Asyl, der Diakonie, der Arbeiterwohlfahrt sowie Anwalts- und Richtervereinigungen skizziert: In ihrem Memorandum fordern die beteiligten Organisationen eine grundlegende Neuausrichtung der Verantwortungsteilung für Flüchtlinge in der EU. Die derzeit von den Mitgliedstaaten und der EU verfolgten Strategien seien unzureichend: „Um ein gerechtes und solidarisches System der Aufteilung der Verantwortlichkeit für Flüchtlinge in der Europäischen Union zu etablieren, das gleichzeitig die Anliegen der Flüchtlinge berücksichtigt, ist ein Systemwechsel erforderlich. Das Prinzip der ‚freien Wahl des Mitgliedstaates‘ für Asylsuchende verbunden mit einem europäischen Ausgleichfonds, der auf solidarischen und gerechten Grundsätzen beruht, bietet eine Lösung, mit der die aufgezeigten Strukturfehler abgebaut werden können“, so die unterzeichnenden Organisationen.

Deutsche Gerichte haben in letzter Zeit mehrfach geurteilt haben, dass die Lage für Flüchtlinge in Griechenland und auch Italien derartig prekär sei, dass dorthin nicht abgeschoben werden könne. Das macht das Unisono-Statement der Hamburger Politik und auch der meisten deutschen Medien, wonach die Flüchtlinge „in keinem Fall“ bleiben können, mehr als zweifelhaft. Es könnte nämlich durchaus sein, dass zumindest einige erfolgreich Rechtsmittel gegen ihre Abschiebung nach Italien einlegen. Ob dies auch ein Kalkül findiger italienischer Politiker gewesen sein mag, bleibt einstweilen reine Spekulation. Dass die derzeitige, maßgeblich von Deutschland und anderen nordeuropäischen Ländern entworfene, Flüchtlingspolitik mehr oder weniger gescheitert und menschenrechtsverletzend ist, darf außerhalb des deutschen Planeten dagegen als sicher gelten.

Siehe auch: Mit Asylkompromiss und Brandflaschen gegen „die Kanaken im Land“, AI: „EU für Tod von Flüchtlingen verantwortlich“, Von „Armutsflüchtlingen“ und klugen Köpfen, FAZ: „Integrationsunwillige“ mitschuldig am NSU-Terror, Proteste, Abschiebungen und ein Todesfall, Die Welt zu Gast bei Philipp, Hans-Peter und Dirk, Sitzkissen keine Gefährdung der Sicherheit!, Berechnungen der Menschlichkeit, Generation Lichtenhagen – Generation NSU?