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Das zensierte Derby

Gestern Abend also das Mailänder Derby, bekannt für die prächtigsten Choreographien Italiens und dafür, das wohl friedlichste Derby Europas zu sein. Seit dem berühmten „Nichtangriffspakt“ zwischen Curva Nord und Curva Sud gab es genau eine „Gewaltepisode“, die aber aufgrund ihres Zustandekommens sehr schnell geklärt war. Ansonsten nichts, friedliches Zusammenstehen vor dem Spiel, nicht einmal schwere Beledigungen. Ein „Kuschelderby“, das verschiedene Groundhopper ablehnen, „weil nichts passiert“. Stattdessen konzentriert man sich auf wunderschöne Choreografien, deren Aufnahmen in aller Welt bewundert werden, ein echter Mailänder Exportschlager – einer der wenigen in der steil abstürzenden Serie A. Im Rahmen der Repressionsmaßnahmen diese Saison sind beide Kurven sogar noch enger zusammen gerückt: Als der Curva Nord von Inter wegen „territorialer Diskriminierung“ (man hatte beim Auswärtsspiel in Neapel Gesänge gegen den Gegner gesungen) zum gestrigen Derby die Kurve geschlossen wurde, ließ die Reaktion der Milanisti nicht lange auf sich warten – die Curva Sud zeigte sich solidarisch und kündigte an, in diesem Falle auch nicht ins Stadion zu gehen. In typisch italienischer Manier wurde zwei Tage vor dem Spiel dann umdisponiert und die Sportgerichtsbarkeit ließ verlauten, dass man noch „Klärungsbedarf“ sehe und verschob die Kurvenschließung auf irgendwelche der nächsten Spiele. Die Aufschiebung der aufgeschobenen Aufschiebung mittlerweile. Beide Kurven durften also am Derby teilnehmen. Hintergrund dürfte sein, dass die Sicherheitsbeauftragten vermeiden wollten, am Spieltag dann 15.000 Fans vor dem Stadion protestieren zu sehen.

Soweit, so gut. Allerdings kann die Staatsmacht so einen Sieg der Ultràs nicht so ohne Weiteres auf sich sitzen lassen und so begann die Provokation schon am Samstagabend, als Agenten der Digos, Polizisten, der Gesundheitsbehörde, Abteilung für Wirtschaftsstraftaten und Feuerwehrleute die alljährliche Weihnachtsfeier der Curva Sud sprengten und das Stammlokal „Clan“ in Sesto San Giovanni und die anwesenden etwa 300 Fans akribisch durchsuchten. Sämtliche Zugangsstraßen wurden für diesen Blitz abgesperrt. Gefunden wurde: Nichts. Natürlich nichts, es war die friedliche Weihnachtsfeier, wie jedes Jahr. Eine Weihnachtsfeier, an der gern auch Spieler, Ex-Spieler oder Sportdirektor Galliani teilnehmen. Reine „Provokation“ also, es war sicherlich jedem bewusst, dass beim weihnachtlichen Fest nicht Panzerfäuste und schmutzige Atombomben gelagert wurden.

Das war aber nur der Auftakt zur eigentlichen Strafaktion und wer bisher dachte, dass „Rache“ und „Provokation“ nicht zum Repertoire der für Ordnung und Sicherheit Verantwortlichen gehören, wurde dann spätestens am Sonntagmorgen eines Besseren belehrt. Noch niemals in 25 Jahren Verantwortlichkeit der Digos Mailand für die Stadionsicherheit wurde eine Choreografie vor dem Spiel inspiziert. Und noch niemals gab es bei einer Mailänder Choreografie irgendetwas zu bemängeln: keine schweren Beleidigungen, kein Rassismus, kein Sexismus, kein Satanismus und keine Aufforderungen, Kinder zu verspeisen. Nichts von alledem, niemals, selbst die Schmähungen des Gegners übersteigen nie die lockere Ironieschwelle; oft genug musste ich über die Ideen der Interisti laut lachen im Stadion. Zumal die Choreografien ja seit Jahren angemeldet und genehmigt werden müssen, Polizei und Verein wissen also vorab, was darauf zu sehen sein wird. So auch gestern: alles angemeldet, alles genehmigt, alles offengelegt.

Gestern früh um 9 Uhr wollten sich die Beamten sich aber – erstmals – „noch einmal vergewissern“. Und sie baten die Ultràs, die Choreo auf dem Stadionvorplatz zu entpacken und auf dem Boden auszubreiten. Dumm nur, dass es in der Lombardei seit Tagen regnet und am bezeichneten Ort eine riesige tiefe Pfütze entstanden war. Selbstverständlich war es für die Männer in Uniform keine Option, die gewünschte Prüfung im Innenraum unter der Kurve durchzuführen, das versteht sich von selbst. Und ebenso selbstverständlich wollten die Ultràs der Curva Sud das nicht tun, eine mit wasserlöslichen Farben gemalte Choreo würde unweigerlich zerstört – und mit ihr 4 Monate Vorbereitung, nächtelanges Malen, zehntausende Euro an Material (eine Choreografie für das San Siro kostet im Schnitt 25.000 EUR, die aus Spenden und Materialverkauf finanziert werden).

Nichts zu machen, kein Argument konnte die Staatsmacht zum Kompromiss bewegen. Und so entschied man sich schweren Herzens, die Sachen wieder einzupacken und auf die Aufführung der diesjährigen Choreografie zu verzichten. Am Abend vorher dieselbe Vorfreude auf das Derby bei der gegnerischen Curva Nord: Allein für das Zusammenfalten des Mittelteils ihrer Choreo, 80 x 20 m, benötigten die Jungs 6 Stunden! Unter einer Straßenbrücke, um zu verhindern, dass das Kunstwerk nass wird und immer aufmerksam, dass dabei kein Teil den Boden berührt. Auch das Team um „Rosso“, den Choreo-Beauftragten der Boys (gut zu sehen in unserer Italien-Doku „Verrückt nach Fußball“ aus dem letzten Jahr) war am Sonntagmorgen im Stadion, um die Lieferwagen zu entladen. Es dauerte nur wenige Momente nachdem man über die Probleme der Curva Sud aufgeklärt wurde, eine Entscheidung zu fällen: Auch die Interisti würden auf eine Aufführung verzichten!

Und so trug sich gestern Abend das graueste, langweiligste, erbärmlichste Derby in der Geschichte zu: ohne Farben, ohne Gesänge, mit einem seltsamen akustischen Grundrauschen der anderen Stadionbereiche. Hierzu muss man wissen, dass es mittlerweile auch verboten ist, das Geländer zu erklimmen – bei Androhung von Stadionverbot! Unmöglich also für die „Lanciacori“, die Gesänge der Kurve zu koordinieren, Megaphone sind ja schon seit Jahren verboten. Die eigentlich für die „Sicherheit“ Verantwortlichen haben es geschafft, auch dem friedlichsten Derby Europas die Leidenschaft und das Herzblut zu rauben, alles das also, was ein Derby ausmacht und ein Fußballspiel von einem Tennismatch unterscheidet. Keine Silbe darüber selbstverständlich bei Sky Calcio, die seit Wochen damit beschäftigt sind, auch die Haare am Hintern von Trainer Allegri zu zählen, um keinen Aspekt unbeleuchtet zu lassen und 24 Stunden Sendezeit mit irgendetwas zu füllen. Hier hieß es bestenfalls „Heute Abend keine Choreografien“, kein Wort der Erklärung, keine Silbe der Enttäuschung. Nichts. Irgendwann werden auch diese Damen und Herren merken, dass ihr Produkt an Wert verliert, wenn sich die Tristesse auf den Rängen der Tristesse auf dem Platz angleicht: Rein sportlich war das Spiel – Inter gewann 1:0 – an Armseligkeit kaum zu überbieten. Tiefpunkt erreicht.

Megaphone: verboten. Fahnen: verboten. Freche Gesänge: verboten. Choreo: verboten. Auf dem Geländer sitzen: verboten. Feuerzeuge: verboten. Alkohol: verboten. Liebe Raucher: besuchen Sie San Siro, solange es noch geht!

Hier nochmal die „Cugini“ bei der Derby-Vorbereitung (ab 37:10). Als Illustration dessen, was gestern passiert ist.

17 Antworten auf „Das zensierte Derby“

Hey altravita weißt du ob nächste woche auf beiden seiten choreos geben wird?
Danke im vorraus 🙂

Ist schon klar, Fußball ist Geschäft….
Und alles was mir nicht gefällt gehört sowieso verboten.
Hoffentlich bekommen sie hier noch die Kurve.
Und stehen zusammen gegen staatliche (polizeilich, behördliche was der Geier für welche) WILLKÜR.

Ich war am Sonntag zum zwölften Mal im San Siro. Nach 25 Minuten bin ich aus dem Stadion gegangen, weil das Ganze so bitter war, Da war echt ein Tiefpunkt erreicht.
Anfangs war es noch gut als dann aber das ganze Stadion merkte dass heute nichts mehr ging war es nicht mehr auszuhalten. Ich war sehr frustriert und enttäuscht.

muss man jetzt hier wirklich erklären dass der kanal voll is mit den schikanen und in diesem klima der einschränkung durch die polizei auch ein fahnenmeer oder schal-meer oder überhaupt gesänge nicht mehr stattfinden?

Man muss sogar erklären, dass Amtsmissbrauch grundsätzlich jeden treffen kann und man lieber nicht feiern sollte, nur weil es zufällig gerade jemanden angeht, der einem sowieso auf den Sack geht. Vor allem aber muss man erklären, dass Mailand in Italien liegt. 😉

Dann ist das halt so. Schade um die Arbeit aber sie wurden weder gezwungen noch hat der Verein sie darum gebeten. Mir gehen solche ach-so-tollen Choreos eh auf den Zeiger.
Hab ich vor 30 Jahren nicht gebraucht, brauche ich heute nicht, werd ich nie brauchen!!
Eine Kurve mit einem Schalmeer läßt mich eher ne Gänsehaut bekommen als irgendein -mehr oder weniger- sinnbefreites Bild.
Erinnere nur an das C. Chaplin Bild des BxB.
Meine Fresse, wer jetzt da nicht reflexartig den Zusammenhang herstellen konnte wurd blöd angeguckt, was für ein Schwachsinn…..

Es geht hier nicht drum, was DU brauchst oder nicht. Es geht hier um eine massive Einschränkung der Freiheit und grenzenloser Willkür. Aber vielleicht siehst du das ja ein, sobald dein geliebtes Schalmeer auch verboten wird. Dann ist deine Gänsehaut auch Geschichte.

Mir gehen Leute wie du auf den Zeiger. Ich habe euch vor 29 Jahren (vor 30 war ich noch nicht geboren) nicht gebraucht und tue es heute noch nicht und werde es auch nie.
Weil dir etwas scheißegal ist, ist es OK wenn Obrigkeiten Dinge die einem wichtig sind einfach zerstören? Mein Onkel besitzt eine Modelleisenbahn. Er verehrt sie. Er bastelt die Figuren selbst, malt sie mühevoll an. Mir wäre es nicht egal wenn jemand ihm sie nehmen würde. Oder verbieten würde sie jemandem zu zeigen. Es würde mich ankotzen, ganz egal wie unwichtig mir persönlich dieses alberne Spielzeug ist. Ihn hat auch niemand gezwungen oder darum gebeten die Bahn zu bauen.
Schalmeere finde ich zwar schön, aber nach 30 Jahren Stadion sollte doch für dich auch etwas Abwechslung etwas wunderbares sein. Mich langweilt es jetzt schon und ich gehe erst seit 23 Jahren ins Stadion. Seit 15 wirklich regelmäßig. Was daran sinnhafter als an einer "sinnbefreiten" Choreo sein soll, die stets ein bestimmtes Motto zeigt, hätte ich wirklich gerne erklärt bekommen von dir.
Und wenn du Franz Jacobi nicht kennst, was dein Gutes Recht ist (ich habe Null Ahnung welches Stück Scheiße den FC Schalke, oder wie du vermutlich sagen würdest den SX4, damals verbrochen hat) dann mache nicht andere dafür Verantwortlich wenn du in dem Punkt ungebildet ist. Und versuch z.B. den Zusammenhang aus dem zur Choreo gehörigen Spruchband abzuleiten. Oder interessiere dich wirklich nicht, halt dann aber auch einfach die Fresse. Dann wirste auch nicht blöd angeguckt.