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Fussball

Bei uns zu Hause steht man

Am Samstagabend wurde im MAPEI-Stadium in Reggio Emilia das sportlich sinnlose, aber in der Sommerpause gern genommene Turnier „Trofeo TIM“ ausgespielt (Juve, Milan, Sassuolo – 3 Spiele à 45 Minuten). Halbwegs überraschend präsentierten sich beim ersten Spiel Milan-Juve mehr als tausend Fans des eigentlichen Vereins der Stadt, AC Reggiana 1919, (derzeit spielt der von MAPEI aufgepumpte Stadtteilverein Sassuolo in der Serie A) und offensichtlich trafen fußballerische Welten aufeinander. Ein Fan der Reggiana schreibt daraufhin einen offenen Brief an eine Frau, die – sitzend – in der Kurve ein Spiel ihrer Juve sehen wollte. Unabhängig vom Anlass halte ich den Text für eine schöne Beschreibung dessen, was viele Fans am „modernen Fußball“ ablehnen und wieso sie widerspenstig an einem überkommenen Modell des Fanseins festhalten, in dem Projekte wie Red Bull pardon, Rasenball Leipzig keinen Platz finden. Vielleicht war früher nicht alles besser, aber ich erkenne mich in dem folgenden Brief sehr gern wieder.

Brief an einen Juve-Fan

(an die freundliche Dame, Juve Fan, die wenige Minuten nach dem Anpfiff der ersten Begegnung des Trofeo TIM, bei der sich die beiden erfolgreichsten Teams Italiens gegenüberstanden, die Jungs hinter mir gefragt hat, ob sie sich hinsetzen könnten, weil sie das erste Mal im Stadion wäre und sich bequem das Spiel anschauen wolle)

Sehr geehrte Signora. die Antwort, die Ihnen gegeben wurde, war vielleicht nicht gerade gentlemanlike, aber nicht mal ungezogen. Keine Ahnung, ob Sie sie verstanden haben, aber weil Sie ja selber sagen, dass Sie zum ersten Mal in einem Stadion waren, glaube ich das mal nicht.
„Bei uns zu Hause steht man.“
Ich werde versuchen, Ihnen diesen Satz zu erklären.
Wir, die tausend, tausendfünfhundert, paar mehr, paar weniger, spielt keine Rolle, die standen, um die Fahnen einer Mannschaft wehen zu lassen, die an dem Abend nicht spielen würde, haben in diesem Stadien viele viele Stunden verbracht. Haben Regen wie Tore abbekommen, Flüche losgelassen, Stimmbänder verloren, geschwitzt und gelitten, uns selten gefreut, noch weniger gewonnen, aber in diesem Stadion, in dieser Kurve, sind wir aufgewachsen, manche sind da sogar geboren, rein sportlich, versteht sich. Um ein Stadion zu besuchen haben wir nicht auf ein Turnier im August gewartet, das live im Fernsehen übertragen wird. Dafür haben wir Geld ausgegeben (stellen Sie sich vor, ein paar hatten sogar Geld gegeben, um dieses Stadion überhaupt bauen zu können), aber das ist das Unwichtigste. Wir haben mit Frau oder Freundin über ein paar Stunden Freizeit verhandelt, Leute kennen gelernt, Freundschaften geschlossen, haben manchmal für ein bisschen Durcheinander gesorgt, aber nichts Wildes.
Und, bitte, vergessen Sie sofort die Bilder von Kriminalität und Stereotypen über Ultràs.
Wir (ich verwende den plurale maiestatis, eine liebe Gewohnheit, Sie werden mir das nachsehen) sind in der überwiegenden Mehrheit ganz ruhige Menschen, vielleicht schreien wir auf den Rängen ein paar Mal rum, aber am Sonntag essen wir zu Mittag auch bloß Tortellini im Kreise der Familie. Wir sind aus der Provinz, „Strapaesani“, wie uns der „Corserone“ auf den Sportseiten definiert hat. Sie können das einfach nicht verstehen. Und ich danke Ihnen wirklich dafür, dass Sie das Unverständliche dann akzeptiert und sich hingestellt haben, um Ihr Spiel zu sehen. Letztlich haben Sie ja danach alles im Sitzen erleben können, nachdem wir das Stadion verlassen haben, weil wir das was wir ausdrücken und zeigen wollten, erledigt hatten.
Wir haben friedlich einen Ort besetzt, den wir als unseren begreifen, um herauszuschreien, dass wir nicht vergessen haben, was dieser Ort für uns bedeutet. Eine Art politischer Demonstration.
Absurd, ins Stadion zu gehen, um dann das Spiel nicht zu sehen. Das interessierte uns nicht. Stellen Sie sich mal vor, wie seltsam wir sind. Wir haben 15 Euro bezahlt, um ein Spiel nicht zu sehen und zur 40. Minute sind wir raus gegangen. Schon das werden Sie, nach meiner bescheidenen Meinung, nur schwer verstehen. Sie würden vermutlich keinen Augustabend an ein Fußballspiel verschwenden, wenn Ihre Juve mal 3 oder 4 Jahre keinen Scudetto gewinnen würde – vielleicht, weil Fiat schlecht da steht, oder was weiß ich (das ist nur ein Beispiel, kein Unken) -, Sie würden lieber mit Ihrer Familie Pizza essen gehen.
Denn unser Fußball ist anders als Ihrer, bei allem Respekt selbstverständlich, aber ich hoffe, Sie haben mitbekommen, dass es keinen einzigen Sprechchor gegen eine der beiden Mannschaften auf dem Platz gegeben hat, denn das spielte keine Rolle für uns.
Unser Fußball reimt sich auf Identität, Stolz, Dabeisein, so oft wie möglich, wenn nicht immer, auch an einem solchen Abend, der für uns sportlich völlig unbedeutend ist, im Corteo zum Stadion marschieren und dann ein Team zu supporten, von dem Sie nichtmal wissen, das es existiert und das der arrogante Bengel auf dem Platz neben Ihnen als „Loser“ betitelt hat
Tja, unsere Mannschaft existiert. Wir waren gestern abend für sie da. Sie spielt in der Lega Pro mit seit Jahren lächerlichen Resultaten, aber vor allem existiert sie in unseren Herzen und unseren Erinnerungen, egal ob sie erste wird (wann schon?) oder ob sie, wie so oft, unter den Letzten ist.
Das nennt man stehen bleiben, um das Spiel zu sehen, das nennt man eine Art, den Fußball zu erleben abzulehnen, der sicherlich schon gewonnen hat, mit dem man aber trotzdem nicht übereinstimmen kann oder wenigstens über seinen Sinn diskutieren – oft genug bar jeder ethischen Werte und lokaler Wurzeln. In einem Anfall von sterilem Romantizismus, vergangenheitsverliebt und absolut auf der Verliererstraße, den wir aber trotz Allem der staubtrockenen Atmosphäre der Pressekonferenzen vorziehen, auf denen man von der Modernisierung der VIP-Tribünen redet, von Synergien und dem „die Fans akzeptieren das“. Ein Gefühl, das ganz unten geboren wird und das nichts mit gewonnenen Titeln zu tun hat.
Man kann nicht übereinstimmen mit einer Geschichte in der einzig zählt, ganz oben zu stehen, nur der Sieg, „Top“ zu sein – ein Wörtchen ebenso hassenswert wie vergewaltigt von „siegesgewohnten“ Fans, die es verwenden, um die Bedeutsamkeit ihres Produkts aufzuzeigen.
Unsere Geschichte ist anders als die übliche, eben siegreiche, die uns in den Spalten der wichtigsten Sportzeitung Italiens heute ganze 4 Zeilen widmete, von denen eine Unrichtigkeit und eine kompletter Quatsch waren. Aber, ich wiederhole Ihnen das gern, für uns sind diese Ränge auf die wir uns nach Ihrem Wunsch setzen sollten, eine zweite Heimat, sie gehören uns und kein Unternehmer mit genauso viel Geld wie Verschlagenheit (ich erspare Ihnen die Umstände, unter denen ein multinationaler Konzern unter der freundlichen Anteilnahme der reglosen Institutionen und dem Schweigen der lokalen Firmen das Stadion vom Insolvenzverwalter erworben hat) wird sie uns jemals nehmen können.
Ansonsten hoffe ich, dass Sie trotzdem Spaß hatten, ach was, da bin ich mir ganz sicher. Sicher mehr als wir Sie gestört haben, Sie haben Ihr Spiel ja dann sehen können. Verzeihen Sie uns auch ein paar „Vaffanculo“ für Personen, die sich das verdient haben und jetzt höre ich auch schon auf.
Und wer weiß, vielleicht haben Sie ja trotzdem einen Funken unserer Leidenschaft mitbekommen, provinziell und überholt, trotzdem widerborstig und voller Gefühl, ein positives Gefühl, und vielleicht ist Ihnen ja doch ein Lächeln entrutscht, vielleicht haben Sie ja gedacht: „Mensch, seltsam sind sie ja, aber bunt und ganz stark diese Fans von Reggiana“.
Ich danke Ihnen für Ihre Geduld und bis bald.